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7.

Über die Gottesmutter Maria

und

ihre Verehrung

 

1. Eine biblische Mariologie

Im Buch des Propheten Amos heißt es:

Gott der HERR tut nichts, er offenbare denn seinen Ratschluß den Propheten, seinen Knechten.
(Am 3,8)

Gemeint ist: Gott tut nichts Wichtiges, was er nicht zuvor durch seine Propheten angekündigt hat. Zu den wichtigen Dingen, die Gott vorher hat ankündigen lassen, gehört auch die besondere Geburt des zukünftigen Heilandes. Im Alten Testament ist zweimal von dieser besonderen Geburt die Rede ist. Die erste Stelle aus dem Buch des Propheten Micha lautet in der Lutherübersetzung:

Und du, Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes läßt er sie plagen bis auf die Zeit, daß die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel. Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein.
(Micha 5,1-4)

Diese vier Verse sind nur schwer zu verstehen, aber vom Neuen Testament her ist es vollkommen klar, daß hier von Maria die Rede ist. Sie ist die Mutter des Herrn, „dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.“ Mit anderen Worten: Sie ist die Mutter Gottes. Wir sollten uns, wenn wir über Maria sprechen, einer ehrfürchtigen Ausdrucksweise bedienen.

Die zweite prophetische Ankündigung, die von der heiligen Gottesmutter spricht, ist die bekannte Jesaja-Stelle, die in der üblichen Lutherübersetzung so lautet:

Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.
(Jes 7,14)

Das hebräische Verb unterscheidet ja nicht zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darum kann diese Ankündigung auch futurisch übersetzt werden, wie Matthäus das tut, der in seinem Evangelium schreibt:

Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Immanuel heißen.
(Mt 1,22)

Dies ist ja die bekannte Ankündigung der „Jungfrauengeburt“.

Nun haben allerdings schon die Juden zu Luthers Zeiten bestritten, wie es auch heute viele historisch-kritische Exegeten tun, daß das hebräische Wort „almah“ eine „Jungfrau“ meint, es könne auch eine „junge Frau“ gemeint sein. Dieser Einwand ist jedoch haltlos. Der Kontext im Jesajabuch spricht von einem großen Wunder: „sei es  drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe“ (Jes 7,11). Wenn dagegen nur die Schwangerschaft irgendeiner jungen Frau gemeint wäre, wäre das eher eine Banalität, kein ganz ungewöhnliches Wunder, das Himmel und Hölle in Bewegung setzt. Darum übersetzt ja schon die Septuaginta das Wort „almah“ an dieser Stelle mit „parthenos“.

Nun geht es bei der Jungfrauengeburt nicht einfach um ein blankes Wunder; die wunderbare Geburt hat selbstverständlich ihren tieferen Sinn. Zuerst einmal ist Gott der beste Werbefachmann. Er weiß, daß alles, was mit der Sexualität des Menschen zu tun hat, mit erhöhter Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen wird. Das trifft auch für das kleine Wort „Jungfrau“ zu. Schon dieses Stichwort allein erregt eine besondere Aufmerksamkeit. Ein Mensch, der von einer Jungfrau geboren ist, ist schon aus diesem Grund hochinteressant. So macht Gott seinen Sohn Jesus Christus schon allein durch die Jungfrauengeburt in besonderer Weise der Welt bekannt.

Zweitens: Die Geburt eines bedeutenden Menschen aus einer Jungfrau verletzt den männlichen Stolz. Eine solche Geburt zeigt: „Es geht auch ohne den Mann“. Dieser verletzte Stolz zeigt sich, indem von allen biblischen Wundern als erstes immer die Jungfrauengeburt bestritten wird - wenn man sich nicht  sogar lustig macht über dieses göttliche Wunder. Es ist besonders der „Macho“, der auf diese Weise schon im Vorfeld des Evangeliums verstockt und aussortiert wird.

*

Lukas berichtet, wie der Engel Gabriel zu Maria kam und ihr die hohe Mutterschaft ankündigte. Wie sah der Engel aus? Einige Engel sehen ja genau wie die Menschen aus und werden mit normalen Menschen verwechselt. Darum schreibt der Hebräerbrief:

Gastfrei zu sein, vergesset nicht, denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.
(Hebr 13,2 / vgl 1.Mose 19,1+2 / vgl auch Jos 5,13-15)

Andere Engel werden jedoch besonders stattlich, herrlich und lichtumflutet beschrieben. So heißt es in der Offenbarung an zwei Stellen:

... ich sah einen ... starken Engel vom Himmel herabkommen; der war mit einer Wolke bekleidet und hatte den Regenbogen auf seinem Haupt und ein Antlitz wie die Sonne und Füße wie Feuersäulen. ... Und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und den linken auf die Erde, und er schrie mit großer Stimme, wie ein Löwe brüllt.
(Offb 10,1-3)

Und danach sah ich einen andern Engel niederfahren vom Himmel, der hatte große Macht, und die Erde ward erleuchtet von seinem Glanz. Und er schrie mit großer Stimme und sprach ...
Offb 18,1+2)

Welch eine Art Engel wird Gott zu Maria geschickt haben? Darüber berichtet die Bibel nichts. Es ist aber anzunehmen, daß es ein herrlicher Engel  war. Hier ging es ja nicht um eine Art Versteckspiel oder Glaubensprobe, sondern Maria sollte informiert werden; und es war für sie gewiß leichter zu verstehen, welch eine Art Sohn sie zur Welt bringen sollte, wenn schon der Bote, der es ihr ankündigte, majestätisch und herrlich aussah. Trotzdem stelle ich mir vor, daß der herrliche Erzengel Gabriel sich vor Maria verneigt oder sich vielleicht sogar vor ihr hingekniet hat, als er ihr die frohe Botschaft verkündigt hat. Denn das arme Mädchen, die schlicht angezogene Maria, war ja von nun an die hochzuehrende Mutter Gottes.

Der Dialog zwischen Maria und dem Engel lautet nach Lukas -  leicht gekürzt:

 ... der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen. Der wird groß sein und ein Sohn des Höchsten genannt werden ... Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?

Der Engel teilt Maria mit, daß sie die Mutter des Heilandes werden soll. Manche katholische Exegeten neigen dazu, aus der Mitteilung des Engels eine Art Anfrage zu machen: Bist du bereit, die Mutter des Erlösers zu werden? Verschiedene katholische Theologen gehen sogar so weit, zu behaupten, daß es keinen Erlöser und keine Erlösung gegeben hätte, wenn Maria mit Nein geantwortet hätte. Eine solche Auslegung ist jedoch unsinnig, denn einmal fragt der Engel nicht, sondern verkündet nur: „du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären“; und zum anderen liegt es ganz außerhalb der antik-orientalischen Vorstellungswelt, daß eine Frau gefragt wird, ob sie schwanger werden will oder nicht. Eine solche Frage wäre vom Standpunkt der Antike schon fast feministisch. Wenn Lukas so etwas hätte andeuten wollen, hätte er das mit entsprechend klaren Worten zum Ausdruck bringen müssen.

Im übrigen erklärt schon Papst Leo der Große in einer Weihnachtspredigt zur Geburt Jesu aus einer Jungfrau:

... obwohl Gott ... unsäglich viele Mittel für die Erlösung des Menschengeschlechtes zu Gebote standen, wählte er doch vor allem diesen Weg zur Rettung.
(BKV2 54,82)

Dieser Überzeugung schließe ich mich an. Wenn Maria „nein“ gesagt hätte, hätte Gott noch andere Wege gewußt, um das Menschengeschlecht zu erlösen.

Der Glaubensgehorsam der Maria bestand also nicht darin, daß sie unter zwei Möglichkeiten diejenige ausgewählt hat, die für alle Menschen heilbringend war,  sondern darin, daß sie zu allem Ja gesagt hat, was Gott ihr auferlegt hat.

Auch die Antwort der Maria wird von einigen katholischen Theologen ziemlich gewaltsam uminterpretiert. Aus den Worten: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?“  machen sie ein Jungfräuligkeitsgelöbnis - so als ob Maria gesagt hätte: „Ich habe mich entschlossen, bis zum Ende meines Lebens von keinem Mann etwas wissen zu wollen!“ Nach der Bibel hat sie so etwas jedoch nicht gesagt.

In Wirklichkeit reagiert Maria auf die Ankündigung des Engels zunächst überrascht. Müßte sie nicht erst verheiratet sein? Die Jesajastelle, die von einer Jungfrauengeburt redete, war ihr bis dahin offenbar unbekannt. Der Engel bleibt geduldig und erklärt ihr:

Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten ...
(Lk 1,35)

So wie eine Wolke vom hohen Himmel herab ihren Schatten auf die Erde wirft, so wird Gott vom Himmel einen Kraftschatten auf Maria herniederkommen lassen. Dieses Kind wird durch den Heiligen Geist gezeugt, nicht durch einen Mann.

Was Gott ihr mit dieser Schwangerschaft auferlegt, ist heikel und gefährlich. Wenn öffentlich bekannt wird, daß Maria schwanger ist, ohne daß sie einen legitimen Vater zu diesem Kind hat, muß sie nach dem Gesetz des Mose gesteinigt werden (5.Mose 22,20+21). Zwar verspricht Gott ihr durch den Engel, daß das Kind in jedem Fall geboren werden wird; aber wie es danach weitergeht, bleibt offen. Zumindest droht ihr die öffentliche Schande, was zur damaligen Zeit sehr schlimm war.

Maria wird mit Sicherheit gewußt haben, daß die angekündigte Schwangerschaft lebensgefährlich, zumindest aber ehrenrührig sein werde. Trotzdem hat sie ihre Bereitschaft erklärt:

Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.
(Lk 2,38)

Maria war bedingungslos bereit, alles auf sich zu nehmen, was Gott ihr auferlegen würde. Damit ist sie allen Christen ein großes Glaubensvorbild.

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Als erstes mußte Maria wohl ihren Eltern Bescheid sagen, daß sie schwanger geworden war, nachdem ihr das der Erzengel Gabriel angekündigt hatte. Es ist klar, daß diese Mitteilung für die Eltern schwer zu glauben war; darum hat der Engel Maria und ihrer Familie ein hilfreiches Zeichen genannt:

... siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn in ihrem Alter und geht jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, daß sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.
(Lk 2,36+37)

Das war praktisch die Aufforderung zu einer Reise nach Judäa; und da Maria keineswegs allein reisen konnte, mußte ihr Vater oder ein älterer Bruder mitkommen. Dort im Hause des Zacharias und der Elisabeth konnte man sich überzeugen, daß der Engel offenbar die Wahrheit gesagt hatte und daß auch Maria durch ein göttliches Wunder schwanger geworden war.

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Bei der gegenseitigen Begrüßung der beiden Frauen hat Maria das bekannte Magnifikat gesprochen. Möglicherweise war das eine spontane Eingebung durch den Heiligen Geist; und es ist auch gut denkbar, daß Maria sich noch nach Jahren genau an den Wortlaut dieses Lobgesanges erinnern konnte und daß sie ihn Lukas noch Jahrzehnte später Wort für Wort mitteilen konnte.

Ich glaube allerdings nicht an eine spontane Eingebung. Es scheint vielmehr bei vielen Müttern üblich gewesen zu sein, daß sie bei der Geburt eines Sohnes eine Art Poesiealbum-Spruch gedichtet haben oder gar ein ganzes Gedicht, die man sorgfältig aufhob wie heute das erste Foto eines Neugeborenen. Das erste Beispiel dafür ist Eva, die zur Geburt des Kain den folgenden Spruch geprägt hat:

Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN.
(1.Mose 4,1)

Und zur Geburt des Seth hat sie den etwas betrübten Ausspruch getan:

Gott hat mir ... einen andern Sohn gegeben für Abel, den Kain erschlagen hat.
(1.Mose 4,25)

Beide Muttersprüche sind ja bis heute überliefert. Ebenso überliefert die Bibel auch die verschiedenen Muttersprüche der vier Frauen des Jakob; und von Hanna, der Mutter des Samuel, wird ein langes Gedicht überliefert, das dem späteren Magnifikat der Maria sehr ähnelt. Vermutlich hat Maria den Lobgesang der Hanna gekannt und sich davon für ihr eigenes mütterliches Lied inspirieren lassen.

In jedem Fall beweist das Magnifikat, daß Maria nicht ein naives Kleinstadtmädchen war. Sie muß vielmehr dichterisch begabt und theologisch gebildet und interessiert gewesen sein. Sie hat als theologisch interessierte und hochgebildete Mutter ihrem Sohn Jesus die ersten Gebete beigebracht und ihm vermutlich schon frühzeitig gesagt, daß er der Messias des jüdischen Volkes sei. Wir haben im Deutschen das Sprichwort, daß hinter jedem großen Mann eine große Frau steht. Eine solche große Frau hinter ihrem großen Sohn ist Maria zweifellos gewesen.

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Der nächste, der informiert werden mußte, daß Maria schwanger war, war zweifellos Joseph. Als er erfuhr, daß seine Verlobte schwanger war, wollte er sie keineswegs heiraten. Allerdings wollte er sie auch nicht öffentlich anzeigen und ins Verderben stürzen. Er beschloß also, Nazareth heimlich zu verlassen, so daß die Leute glauben mußten, daß er der Vater des Kindes sei - der aber seine Verlobte schmählich im Stich gelassen habe. Vielleicht hätten die Leute Mitleid mit Maria gehabt und es wäre ihr weiter nichts passiert.

Gottes Plan war aber ein anderer. Durch einen Engel forderte er Joseph im Traum auf, Maria dennoch zu heiraten. Maria sei die Mutter des zukünftigen Messias, und das Kind sei vom Heiligen Geist. Joseph hat der göttlichen Aufforderung gehorcht und Maria tatsächlich geheiratet, die Ehe aber nicht vollzogen:

Da nun Joseph vom Schlaf erwachte tat er, wie ihm des Herrn Engel befohlen hatte, und nahm sein Gemahl zu sich. Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und hieß seinen Namen Jesus.
(Mt 1,24+25)

Hat Joseph den Vollzug der Ehe nur aufgeschoben, bis das Kind geboren war? Dafür könnte sprechen, daß Jesus nachdem Lukasevangelium der „erste“ Sohn war (Lk 2,7), daß die Evangelien von weiteren Brüdern und Schwestern Jesu reden (Mt 12,46+47 / Mk 3,31 / Lk 8,19+20 /  Joh 2,12 / 7,3-5),  und daß Joseph Maria ja nur so lange nicht berührt hat, „bis sie einen Sohn gebar“.

Zu dem letzten Argument muß man jedoch wissen, daß das biblische „bis“ keine zeitliche Grenze setzt. Wir wollen uns das an einigen Beispielen vor Augen führen:

Und Samuel sah Saul fortan nicht mehr bis an den Tag seines Todes.
(1.Sam 15,35 / vgl auch 2.Sam 6,23)

Selbstverständlich hat Samuel auch nach seinem Tod Saul nicht mehr gesehen.

Der HERR sprach zu meinem Herrn: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache.“
(Ps 110,1)

Soll der Christus nur für eine vorübergehende Zeit zur Rechten des göttlichen Vaters sitzen? So ist das Wort „bis“ hier sicher nicht gemeint.

Gleichwohl herrschte der Tod von Adam an bis auf Mose auch über die, die nicht gesündigt hatten mit gleicher Übertretung wie Adam ...
(Rm 5,14)

Leider herrschte der Tod nicht nur bis Mose, sondern auch danach. Bis Mose herrschte er ohne ein ausdrückliches Gesetz, danach aber auf Grund des Gesetzes, das Gott durch Mose gegeben hatte.

Vor allem das letzte Beispiel zeigt gut, was mit dem „bis“ in Mt 1,25 vermutlich zum Ausdruck gebracht werden soll: Bis zur Geburt Jesu hatte der Verzicht des Joseph auf die Ehe die Aufgabe, die absolute Glaubwürdigkeit der jungfräulichen Geburt Jesu zu garantieren. Der Verzicht danach war dagegen durch die heilige Scheu des Joseph vor der hohen Stellung seiner gesetzmäßigen Frau begründet. Das steht zwar so nicht in der Bibel,  ist aber zumindest denkbar. Jedenfalls ist klar, daß das „bis“ nicht bedeuten muß, daß Joseph nach der Geburt Jesu die Ehe mit Maria vollzogen hat.

Auch daß Jesus als „erster“ Sohn der Maria bezeichnet wird, beweist nicht, daß sie noch weitere Söhne gehabt hat. Nach dem Gesetz des Mose muß für den  „Erstgeborenen“ eine besonderes Opfer dargebracht werden unabhängig davon, ob nach ihm noch andere Söhne geboren wurden oder nicht (2.Mose 13,13 / 4.Mose 3,40-51).

Und was schließlich die „Brüder“ angeht, so muß man wissen, daß hier ein Übersetzungsproblem vorliegt. Die biblischen „Brüder“ sind in Wirklichkeit männliche Verwandte bis hin zu bloßen Volksgenossen. Geht es dagegen um wirkliche Brüder, so werden sie als Söhne der Mutter oder des Vaters bezeichnet. So spricht Gideon mit folgenden Worten von seinen erschlagenen Brüdern:

Es sind meine Brüder, meiner Mutter Söhne gewesen.

(Ri 8,19 / vgl 1.Mose 42,13 / 5.Mose 13,7 / 2.Chr 21,2 / Ps 69,9 / Hld 1,6 / 8,1)

Genauso verhält es sich auch mit den Schwestern. So heißt es bei Hesekiel von den Fürsten in Israel, die sich an ihren eigenen Schwestern vergehen:

... sie tun ihren eigenen Schwestern Gewalt an, den Töchtern ihres Vaters.
(Hes 22,11 / vgl 3.Mose 18,9)

Es gibt also keinen Beweis, daß Maria später noch andere Kinder gehabt hat; das ist sogar unwahrscheinlich, da Jesus am Kreuz den Apostel Johannes gebeten hat, sich um seine Mutter zu kümmern. Das wäre ja als erstes die Aufgabe eventueller anderer Kinder der Maria gewesen.

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Die katholische Kirche lehrt, daß Marias nicht nur auf wunderbare Weise schwanger geworden ist, sondern auch auf wunderbare Weise schmerzlos geboren habe. Das ist übrigens auch der Hintergrund des Liedes „Maria durch ein Dornwald ging“, das auch von evangelischen Christen gern gesungen wird, wenn es dort heißt:

Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen,
das trug Maria unter ihrem Herzen.

In der Bibel steht davon nichts, wenn es nicht sogar eine Stelle gibt, die das Gegenteil besagt. In der Offenbarung des Johannes wird nämlich eine Frau beschrieben, die in Kindsnöten schreit und bei der es sich höchstwahrscheinlich um Maria handelt:

... es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual bei der Geburt.  Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache ... Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, auf daß, wenn sie geboren hätte, er ihr Kind fräße. Und sie gebar einen Sohn, ein Knäblein, der alle Völker sollte weiden mit eisernem Stabe. Und ihr Kind ward entrückt zu Gott und seinem Thron.
(Offb 12,1-5)

Das Kind der Frau ist ganz klar der Messias, der nach Ps 2,9 und Offb 19,15 die Völker mit einem eisernen Zepter schlagen wird. Demnach ist die Mutter Maria - allerdings nicht nur. In der Bibel haben ja mache Bilder eine Doppelbedeutung. So werden im Danielbuch die Füße des großen Standbildes, die aus Ton und Eisen gemischt sind, auf folgende Weise doppelt erklärt

... daß die Zehen an seinen Füßen teils von Eisen und teils von Ton sind, bedeutet: zum Teil wird’s ein starkes und zum Teil ein schwaches Reich sein. Und daß du gesehen hast Eisen mit Ton vermengt, bedeutet: sie werden sich zwar durch Heiraten miteinander vermischen, aber sie werden doch nicht aneinander festhalten, so wie sich Eisen mit Ton nicht mengen läßt.
(Dn 2,42+43)

Ebenso erklärt auch einer der Engel in der Johannesoffenbarung die sieben Häupter des scharlachfarbenen Tieres auf zweifache Weise:

Die sieben Häupter sind sieben Berge auf welchen das Weib sitzt, und sind sieben Könige.
(Offb 17,9)

Offenbar hat auch die apokalyptische Frau eine gleichnishafte Doppelbedeutung. Sie ist Maria, die Mutter Jesu und zugleich die christliche Kirche. Kaum zu Maria, wohl aber zur Kirche paßt es nämlich, wenn es heißt:

Und das Weib entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hat, bereitet von Gott, daß sie daselbst ernährt würde zwölfhundertsechzig Tage ...
Und die Schlange schoß aus ihrem Rachen nach dem Weibe ein Wasser wie einen Strom, daß er sie ersäufe. Aber die Erde half dem Weib und tat ihren Mund auf und verschlang den Strom, den der Drache aus seinem Rachen schoß.
(Offb 12,6+15+16)

Diese Verse dürften bildhaft eine Christenverfolgung beschreiben, die Maria wohl kaum erlebt hat. Trotzdem: Die ersten Verse passen so gut zu Maria, daß sie zumindest mitgemeint sei dürfte. Das aber heißt, daß Maria nach der Offenbarung Kindesnöte, also Geburtsschmerzen gehabt hat. Jesus ist offenbar auf normale Weise geboren worden und hat dabei auch selber Schmerzen erlitten - sozusagen als ein erstes Angeld auf seine spätere Kreuzigung.

Wenn die katholische Kirche lehrt, daß Maria ohne Schmerzen geboren hat und daß sie trotz der Geburt eines Kindes das äußerliche Zeichen ihrer Jungfräulichkeit unverletzt bewahren konnte, so bin ich auf Grund von Offb 12,2 skeptisch. Wenn sie ihr ganzes Leben lang mit keinem Mann zusammengekommen war, wie das auch mir wahrscheinlich erscheint, ist sie ja in jedem Fall eine immerwährende Jungfrau mit einer reinen, jungfräulichen Seele geblieben. Mir scheint, die katholische Theologie und Volksfrömmigkeit nehmen verschiedene körperliche Einzelheiten der heiligen Gottesmutter zu wichtig, dagegen sollte man mehr über ihre geistige Situation nachdenken.

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Lukas berichtet, daß Joseph und Maria das Kind 40 Tage nach der Geburt in den Tempel gebracht haben, um für ihn die gesetzlich vorgeschriebenen Opfer darzubringen. Lukas schreibt:

Und da die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz des Mose vollendet waren, brachten sie ihn nach Jerusalem, auf daß sie ihn darstellten dem Herrn, wie denn geschrieben steht in dem Gesetz des Herrn »Alle männliche Erstgeburt soll dem Herrn geheiligt heißen«,
(Lk 2,22+23)

Wieso bedurfte die heilige Gottesmutter nach der Geburt Jesu der „Reinigung“? Gott hatte im Gesetz des Mose angeordnet, daß eine Mutter 40 Tage lang nach der Geburt eines Sohnes „unrein“ war, nach der Geburt einer Tochter waren es sogar 80 Tage. Diese Anordnung Gottes wird nirgends erklärt. Dem modernen Menschen erscheint sie anstößig – vor allem, daß die Unreinheit bei der Geburt einer Tochter doppelt so lang sein soll.

Ich habe mir angewöhnt, bei allen unverständlichen rituellen Anordnungen des Mosegesetzes zu vermuten, daß es sich um eine Reaktion auf einen heidnischen Aberglauben handelt. In diesem Fall möchte ich vermuten, daß eine Frau in der kanaanäischen Religion nach der Geburt eines Sohnes 40 Tage lang als besonders kraftgeladen galt und nach der Geburt eines Mädchens sogar 80 Tage lang. Das hatte möglicherweise seine sexual-abergläubischen Folgen. Damit nun ein solcher Aberglaube nicht in das Volk Israel hineinschwappt, hat Gott, wie ich vermuten möchte, durch gegensätzliche Gebote gegengesteuert.

In sofern wäre also  eine israelitische Frau nach der Geburt eines Kindes nicht „unrein“, sondern nur kultisch „unwillkommen“. Vermutlich liegt auch hier ein Übersetzungsproblem vor. Theologisch bedeutungsvoll ist die Tatsache, daß Maria sich mit ihrem Sohn ganz an das Gesetz des Mose hält und keine Sonderregelung für sich in Anspruch nimmt. Ähnlich wie Jesus, der am Kreuz die Gottferne erleben mußte, hat also auch Maria ein unverschuldetes Gott-Unwillkommen durchgemacht. Wer will, könnte darin vielleicht einen ganz kleinen Hauch von Miterlöserschaft sehen.

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Wir kommen zu der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. Nach dem Gesetz des Mose gab es keine Verpflichtung, am Sabbat in den Tempel oder in eine Synagoge zu gehen. Verpflichtend waren aber die drei großen Wallfahrtsfeste, die jeder männliche Jude ab dreizehn Jahren besuchen mußte. Maria und Joseph haben Jesus schon ein Jahr früher mitgenommen - sei es, daß dies der Wunsch des Knaben war, oder daß die Eltern es für gut hielten als eine Art Generalprobe.

Als der Zeitpunkt der Heimreise kam, war Jesus verschwunden; er war noch einmal in den Tempel gegangen. Luther rechnet es Maria als schwere Schuld an, daß sie den Zwölfjährigen nicht genügend beaufsichtigt und ihn so verloren hat (Walch212,446). Ich kann das nicht sehen. Ein Zwölfjähriger ist kein Kleinkind mehr. Wenn hier überhaupt Schuld vorlag, wäre sie wohl eher bei Jesus zu suchen. Das will ich natürlich nicht. Ich gehe davon aus, daß Jesus Anweisung von seinem himmlischen Vater bekommen hat. Gott wollte wohl seinerseits eine Generalprobe mit den Eltern veranstalten, wobei sie lernen sollten, daß Jesus sich mehr nach dem Willen des himmlischen Vaters richten muß als nach dem Willen seiner Eltern.

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Ich kann also in der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel kein Fehlverhalten der Maria erkennen. Anders sieht es bei der Hochzeit zu Kana aus. Da spricht Jesus einen ziemlich scharfen Tadel aus. Und wenn er selber sündlos war,  hat er keinen unberechtigten Tadel ausgesprochen.

Als Maria Jesus mitteilte: „Sie haben nicht Wein“, hat Jesus ziemlich scharf geantwortet. Nach der alten Lutherübersetzung sagt er:

Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.
(Joh 2,4)

Die Redewendung „ti emoi kai soi“ - „was habe ich mit dir zu schaffen?“ - kommt in der griechischen Bibel mehrfach vor. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine abgekürzte Redeweise, die sinngemäß ergänzt werden muß: „Was ist mir und dir gemeinsam?“ Durch die Frageform wird jede Gemeinsamkeit bestritten. Es handelt sich also um eine Redewendung, die eine mehr oder weniger scharfe Distanzierung ausdrückt. Das zeigt sich sehr deutlich, als Absalom gefallen war und der siegreiche David nach Jerusalem zurückkehren wollte. Da begegnete Simei dem König, den er vor kurzem erst verflucht hatte. Diesmal fiel er vor David nieder und bat ihn um Verzeihung. Aber Abisai fragte den König, ob er den Mann nicht niederschlagen sollte. Aber David antwortete scharf:

Was hab ich mit euch zu schaffen, ihr Söhne der Zeruja, daß ihr mir heute zum Satan werden wollt? Sollte heute jemand sterben in Israel?
(2.Sam 19,23)

Ein anderes Mal faucht ein Dämon Jesus mit diesen Worten an:

Was willst du von mir (ti emoi kai soi) ...? Ich beschwöre dich bei Gott, daß du mich nicht quälest!
(Mk 5,7)

Warum gebraucht Jesus diese Redewendung ""ti emoi kai soi"  seiner Mutter gegenüber? Sie hat ihm doch nur mitgeteilt, daß der Wein ausgegangen war. Offensichtlich hatten die Worte der Maria einen drängelnden Unterton. Vielleicht gab es auch noch eine Vorgeschichte dazu.

Maria war, wie gesagt,  keineswegs naiv, sondern theologisch hochgebildet, was man am Magnifikat deutlich erkennen kann. Sie wird sich ganz bestimmt dafür interessiert haben, was die Propheten über ihren Sohn, den Messias, angekündigt haben. Sie wird auch gewußt haben, was die Rabbinen über den Messias lehrten. Und wahrscheinlich wartete sie schon lange auf sein öffentliches Auftreten. Inzwischen war er schon dreißig Jahre alt, und es war von einer messianischen  Wirksamkeit noch nichts zu merken. Vielleicht hat sie ihn schon vorher mehrfach gedrängt, von seiner prophetischen Wunderkraft Gebrauch zu machen, und Jesus hatte sich schon mehrfach verweigert. Jedenfalls spricht Jesus ihr jetzt einen Tadel aus.

Jesus kritisiert aber niemanden, der es nicht verdient hat. Das heißt: Die fromme und heilige Gottesmutter Maria ist offenbar nicht absolut sündlos gewesen. Damit fällt das ganze katholische, teilweise dogmatisierte Legendengebäude hin, das sich um ihre eigene, angebliche, unbefleckte Empfängnis und Sündlosigkeit rankt. Maria war vermutlich frei von allen schweren Sünden, nicht aber von subtilen Gedankensünden. Sie war also eine Sünderin, deren sündloser Sohn auch für ihr ewiges Heil am Kreuz gestorben ist.

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Zum gleichen Ergebnis kann man auch bei der folgenden Geschichte kommen:

Es gingen aber hinzu seine Mutter und Brüder und konnten vor dem Volk nicht zu ihm kommen. Und es ward ihm angesagt: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen dich sehen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun.
(Lk 8,19-21 )

Mit den „Brüdern“ sind hier, wie ich schon ausführlich dargelegt habe, offenbar die Vettern Jesu oder andere männliche Verwandte gemeint. Aus anderen Stellen der Bibel wissen wir, daß diese seine „Brüder“ nicht an Jesus glaubten (Joh 7,5) und ihn sogar für „verrückt“ erklärt haben (Mk 3,21). Auf dem Hintergrund solcher Nachrichten ist es klar, daß Jesus ihnen hier mit seiner Antwort einen sehr deutlichen und öffentlichen Tadel erteilt: Sie glauben nicht an ihn! Sie sind im Gegensatz zu vielen anderen Menschen nicht darauf bedacht, seine Worte zu hören und sich danach zu richten! Damit haben sie aber nicht nur seine Worte, sondern Gottes Wort verworfen.

Wenn diese Deutung richtig ist, ist auch Maria von der Kritik Jesu mitbetroffen. Zwar gehörte sie später zu den gläubigen Jüngerinnen Jesu; vor allem hat sie ihm bei seiner Kreuzigung tapfer die Treue gehalten; aber hier tritt sie noch gemeinsam mit den ungläubigen „Brüdern“ auf, wird zweimal mit ihnen zusammen erwähnt und ist in das tadelnde Wort offenbar miteingeschlossen.

Ich bin nicht der Erste und der Einzige, der Lk 8,19-21 so versteht, daß Jesus seine Mutter getadelt hat. Schon Ambrosius von Mailand schreibt in seinem Kommentar zu Lk 8,19-21:

Nicht draußen hätten nun jene stehen bleiben sollen, die Christus zu schauen suchten ... Denn wenn nicht einmal die eigenen Verwandten, weil sie draußen standen, anerkannt wurden ... wie sollten dann wir anerkannt werden, wenn wir draußen stehen? Auch erblicke da niemand eine Verletzung der Kindespflicht ...
(Lukas-Kommentar VI,37+38)

Die Erwähnung der „Kindespflicht“ zeigt, daß nach Ambrosius Auffassung der harte Tadel, „draußen zu stehen“, nicht nur die Brüder, sondern auch die Mutter Jesu traf.

Noch schärfer drückt sich Johannes Chrysostomos aus, der in seinem Matthäuskommentar zur gleichen Begebenheit schreibt:

... was sie tat, entsprang allzu großer Eitelkeit. Sie wollte vor dem Volke zeigen, daß sie Macht und Autorität über ihren Sohn besitze, obgleich sie noch nicht die geringste Ahnung von seiner Größe besaß. Deshalb kam sie auch zur Unzeit daher. - Beachte jedoch, wie aufdringlich sie und die anderen sich benehmen.
(Mt-Kommentar, 44. Homilie 1 / vgl auch 27. Homilie 3)

 

Johannes Chrysostomos wirft der heiligen Gottesmutter also Eitelkeit und Aufdringlichkeit vor. So weit würde ich nicht gehen, aber es ist klar, daß Jesus auch hier seine Mutter kritisiert, daß sie also nicht absolut sündlos gewesen sein kann.

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Marias große Stunde war gekommen, als Jesus am Kreuz hing. Die Apostel waren geflohen. Das heißt: Sie standen unauffällig im weiten Kreis der Neugierigen um das Kreuz herum (Lk 23,49). Sie hatten nicht den Mut, als seine Freunde und Zeugen direkt unter dem Kreuz zu stehen und es jedem Vorübergehenden laut und deutlich zu bezeugen: Dieser Jesus ist unschuldig. Er ist das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Nur zwei hatten den Mut, unter dem Kreuz zu stehen und wenigstens aus tiefster Seele mitzuleiden: Maria und der Jünger Johannes.

Zu dieser Stunde hatte ihr einst der greise Simeon vorhergesagt:

durch deine Seele wird ein Schwert dringen
(Lk 2,4)

Was war das für ein „Schwert“? Waren es ungläubige Zweifel gegenüber ihrem messianischen Sohn, wie es einzelne Kirchenväter glaubten? Oder war es einfach ein tiefes mütterliches Mitleiden mit ihrem Sohn? Ich weiß es nicht. Wenn aber heutige katholische Theologen meinen, sie wüßten es genau: hier ginge es nur um ihr mütterliches Mitleiden, so bin ich skeptisch. Es ist durchaus denkbar, daß der greise Simeon ihr einen tiefen Zweifel ankündigt. Dann wäre auch dies (Lk 2,4) eine Stelle, die die behauptete absolute Sündlosigkeit der heiligen Gottesmutter infrage stellte.

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Erstaunlich ist die Erwähnung der Mutter Jesu in der Apostelgeschichte. Nachdem Lukas über die Himmelfahrt Jesu vor den Augen der Apostel berichtet hat, schreibt er weiter:

Und als sie hineinkamen, stiegen sie hinauf in das Obergemach des Hauses, wo sie sich aufzuhalten pflegten: Petrus, Johannes, Jakobus und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, des Alphäus Sohn und Simon Zelotes und Judas, des Jakobus Sohn. Diese alle waren stets beieinander einmütig im Gebet samt den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.
(AG 1,13+14)

Daß die Aufzählung mit den elf Aposteln beginnt - mit Petrus an der Spitze - kann man gut verstehen. Daß aber danach erst allgemein die Frauen erwähnt werden und dann erst Maria und schließlich noch die Verwandten Jesu, ist kaum zu verstehen. Hätte nicht Maria zumindest vor den Frauen der Vorrang gebührt? Ein heutiger katholischer Schriftsteller würde Maria gewiß an allererster Stelle aufführen, sogar noch vor Petrus.

Ich denke, daß uns hier der Heilige Geist, der ja der eigentliche Urheber der Bibel ist, einen Wink geben will: Die heilige Gottesmutter Maria ist für die Heilsgeschichte von allergrößter Bedeutung. Sie ist auch würdig, noch vor den Aposteln und allen übrigen Heiligen hoch verehrt zu werden. Es liegt aber in der Marienverehrung auch eine Gefahr - die Gefahr einer Eigengesetzlichkeit. Darum hat Gott sie ein wenig versteckt: hinter den Aposteln und sogar hinter den damals wichtigen Frauen, aber noch vor den Verwandten Jesu, damit sie nicht an allerletzter Stelle erscheint und dort besonders auffällt. Das heißt mit anderen Worten: Marienverehrung Ja! Aber nicht übertreiben!

*

Die gleiche, erstaunlich nüchterne und zurückhaltende Erwähnung findet die heilige Gottesmutter auch im Galaterbrief:

Als ... die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.
Gal 4,4+5)

Es geht in diesen beiden Versen um die größten Dinge: Um das Herabkommen  des Sohnes Gottes auf diese Erde und um unsere Erlösung. Es wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, in diesem Zusammenhang auch Maria zu erwähnen, wenn Paulus das aber doch tat, hätte es vielleicht doch mit etwas mehr Ehre und Anerkennung sein können, vielleicht so:

Als die Zeit erfüllt ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von der Jungfrau Maria ...

oder:

Als die Zeit erfüllt ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, der heiligen Gottesgebärerin Maria ...

Auch hier wird man wohl sagen müsen: Der eigentliche Urheber der Bibel ist der Heilige Geist, der uns im Galaterbrief offensichtlich einen Wink geben will: Die heilige Gottesmutter Maria ist zwar für die Heilsgeschichte von großer Bedeutung, und sie ist hoher Verehrung würdig. Es liegt aber in der Marienverehrung auch eine Gefahr - die Gefahr einer Eigengesetzlichkeit. Darum ist von ihr im Galaterbrief nur zurückhaltend die Rede. Sie kann und soll verehrt werden, aber eben - vorläufig nur zurückhaltend.

 

2. Über die Notwendigkeit der Marienverehrung

Die offizielle katholische Theologie weist den Vorwurf  weit zurück, daß in der katholischen Kirche Maria angebetet und beinahe auf die gleiche Stufe mit Gott gestellt werde. In Wirklichkeit, so heißt es, werde die heilige Gottesmutter nur verehrt und um Fürbitte angerufen. Der Augenschein spricht allerdings  eine andere Sprache. Da wird das Ave Maria und der Rosenkranz „gebetet“, obwohl der Begriff des Gebetes sonst nur dem Reden mit Gott vorbehalten ist. Oder wenn man die vielen Tafeln ansieht, auf denen die Katholiken in Altötting oder an anderen Wallfahrtsorten ihren Dank für die göttliche Hilfe zum Ausdruck bringen, heißt es immer. „Maria hat geholfen“ - es heißt nirgendwo: „Auf Fürsprache der Maria hat Gott geholfen“. Wenn man in eine katholische Kirche kommt, kann man vielfach beobachten, daß vor einem Marienbild viele Kerzen, vor dem Christusbild aber nur wenige, vielleicht sogar keine Kerzen brennen. Als ich vor Jahren eine Messe im Kloster Gerleve besuchte, machte die ganze Liturgie einen eher schleppenden Eindruck. Als aber nach dem Schlußsegen noch einige Marienlieder gesungen wurden, erfüllte plötzlich ein begeisterter, voller Gesang die hohen Gewölbe. Es sind solche und ähnliche Beobachtungen, die den Schluß nahelegen, daß Maria entgegen aller offiziellen Beteuerungen doch in der Praxis eher angebetet als verehrt wird.

Die evangelischen Christen ziehen daraus in aller Regel den Schluß, daß jede Art von Heiligenverehrung und Marienfrömmigkeit verwerflich sei. Ja, es gibt bei uns eine tiefsitzende Aversion gegen jede Art von Heiligen- oder Marienanrufungen. Damit schüttet die evangelische Christenheit sozusagen das Kind mit dem Bade aus. Im Hebräerbrief heißt es nämlich über die Christen und den Gottesdienst:

... ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und den vielen tausend Engeln und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das da besser redet als Abels Blut.
(Hebr 12,22-24)

Wir haben also im Gottsdienst eine enge Gemeinschaft mit Gott und Jesus Christus und mit den heiligen Engeln, aber auch mit den vollendeten Heiligen, zu denen gewiß auch Maria zu rechnen ist. Diese Gemeinschaft nötigt uns, die heilige Gottesmutter wie auch die übrigen Engel und Heiligen freundlich zur Kenntnis zu nehmen und sogar das Wort an sie zu richten. Denn was wäre das für eine Gemeinschaft, wenn wir die an unserem Gottesdienst teilnehmenden Heiligen nicht wahrnehmen oder sogar absichtlich als Luft behandeln würden? Hebr 12,22-24 zwingt uns also zu einer kultischen und verbalen Kommunikation mit den Heiligen. Das geschieht ja tatsächlich auch in unserem evangelischen Gottesdienst - wenn auch nur punktuell und indirekt - wenn wir die Engel und Heiligen in der Präfation erwähnen:

Darum mit allen Engeln und Erzengeln / mit den Mächten des Himmels und seinen Scharen / mit den Cherubim und Seraphim und allen Deinen Heiligen / singen wir Deiner Herrlichkeit einen Lobgesang / und bekennen ohne Ende ...

Eine direkte Anrufung der Engel und Heiligen innerhalb des Gottesdienstes haben wir allerdings nur in der Allerheiligenlitanei in einem hochkirchlichen Weihegottesdienst. Immerhin: in unseren Weihegottesdiensten rufen wir Maria und die Engel und Heiligen an und bitten sie um ihr Gebet. Leider sind diese Weihegottesdienste selten; und vielleicht sollte man die Allerheiligenlitanei auch am Pfingstsonntag singen und an anderen kirchlichen Feiertagen.

 

 

 3. Das rechte Maß der Marienverehrung

Wir kommen zu den praktischen Fragen. Zur Allerheiligenlitanei sollte nach altem Brauch eigentlich die ganze Gemeinde niederknien. Bei den Weihen im Hochkirchlichen Apostolat kniet allerdings nur der Bischof, der dieses Gebet anführt. Dabei haben wir uns eine eigene Regel gemacht: Zur Anrufung der Heiligen steht der Bischof auf, um dann wieder niederzuknien, wenn die Bitten sich wieder an Gott wenden. Auf diese Weise wollen wir klar zum Ausdruck bringen: Wir rufen die Heiligen zwar an, aber wir beten nicht zu ihnen. Schon durch die Körperhaltung bringen wir zum Ausdruck, daß zwischen der Anrufung Gottes und der Heiligen ein tiefgreifender Unterschied besteht.

Eine ähnliche Regel haben wir bei uns in Bremen beim Sakristeigebet nach dem Gottesdienst. Die Danksagung an Gott beten wir mit gefalteten Händen. Danach singen wir: „Gottesmutter Maria, freue dich“. Zu diesem Gesang lösen wir die Gebetshaltung der Hände, um auch hier deutlich zu zeigen: Die Anrufung Mariens ist kein Gebet wie das Gebet zu Gott.

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In der katholischen Kirche ist es üblich - und einige hochkirchliche Gruppen haben das übernommen - daß nach der Complet (also nicht im Stundengebet selber!) noch ein Mariengesang gesungen wird. Leider sind aber die klassischen Texte, mit denen Maria nach der Complet angerufen wird, mehr oder weniger ungeeignet. Da ist zum Beispiel das „Ave Regina coelorum“, das in der deutschen Fassung mit den Worten beginnt:

Ave, du Himmelskönigin, ave, der Engel Herrscherin ...

In der Bibel ist es allein Gott, der als der „Herr Zebaoth“ bezeichnet wird, nämlich als der Herr über das himmlische Heer der Engel. Wird also im „Ave Regina coelorum“ ein göttliches Attribut auf Maria übertragen? Eine solche Aussage könnte sich weder auf die Bibel noch auf die alte Tradition berufen. Das Lied „Ave Regina coelorum“ ist zumindest mißverständlich und sollte daher von niemandem gesungen werden.

In der deutschen Fassung des „Alma Redemptoris Mater“ heißt es:

Erhabene Mutter des Erlösers,
du allezeit offene Pforte des Himmels
und Stern des Meeres,
komm, hilf deinem Volke,
das sich müht, vom Fall aufzustehen.

Ist nach der Bibel nicht die Christenheit das Volk Gottes? Wird hier also ein göttliches Besitztum auf Maria übertragen? Noch fragwürdiger ist aber die Aufforderung, Maria möge „kommen“ - also doch wohl vom Himmel herab, um hier auf der Erde einzugreifen. Aber greift die Gottesmutter selbständig ein in den Lauf dieser Welt? Ist es nicht das alleinige Vorrecht Jesu Christi, hier einzugreifen? Ist nicht ihm allein alle Gewalt im Himmel und auf Erden übertragen; und ist nicht die hilfreiche Rolle der Gottesmutter auf ihre Fürbitte beschränkt?

Im „Salve Regina“ wird Maria unter anderem als „unser Leben, unsere Wonne und unsre Hoffnung“ bezeichnet. Aber ist nicht der unser Leben, der gesagt hat: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“?

Dies ist nicht der einzige Stolperstein im „Salve Regina“, ich will mich aber kurz fassen und an dieser Stelle keine ausführliche Interpretation dieses Liedes vornehmen.

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In mehreren Gesängen wird Maria als „Himmelskönigin“ angesprochen. Man könnte das notfalls mit Offb 12,1-5 begründen. Wenn man die dort beschriebene apokalyptische Frau mit Maria gleichsetzt, könnte man von der dort erwähnten Krone auf Maria als einer Königin schließen. Der Text ist ja wohlbekannt:

Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual bei der Geburt.
(Offb 12,1+2)

Nun ist die Zwölf-Sternen-Krone aber eine etwas ungewöhnliche Krone, sie ist nicht ganz realistisch. Ist eine solche Krone - in  einer einzelnen Bibelstelle - in einem besonders schwer zu verstehenden Buch ausreichend, um auf eine Königsherrschaft Mariens zu schließen? Und muß man nicht auch hier fragen: Ist nicht Gott selber der König des Himmels, wie es die Bibel vielfältig aussagt? Kann es neben Gott noch eine Königin geben? Wäre es nicht vielleicht besser, lieber von einer Fürstin zu reden?

In diesem Zusammenhang weise ich noch einmal darauf hin: wenn man die apokalyptische Frau tatsächlich mit Maria gleichsetzt, was auch ich für richtig halte, müßte man auch die Geburtswehen jener Frau auf Maria beziehen. Das aber lehnt die katholische Theologie strikt ab, da Jesus angeblich ohne jeden Geburtsschmerz geboren worden ist.

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So weit ich das sehen kann, sind alle klassisch-katholischen Marienhymnen dicht an der Grenze, wo die erlaubte hohe Ehre der heiligen Gottesmutter in die nicht erlaubte Ausstattung ihrer Person mit göttlichen Attributen übergeht. Nun wird jemand, der darauf aus ist, die katholische Marienfrömmigkeit möglichst genau zu kopieren, an all diesen Kritikpunkten keinen Anstoß nehmen; für mich ergibt sich jedoch bei allen katholischen Marienliedern das Gefühl eines falschen Zungenschlags. Ich schlage daher vor, daß wir uns bei den orthodoxen  Mariengesängen umsehen. Ein schönes mehrstimmiges Lied, das wir ein ganz klein wenig bearbeitet haben und das ich eben schon kurz erwähnt habe, singen wir in Bremen häufig nach der Messe im Umkleidezimmer:

Gottesmutter Maria,  freue dich!
Hochbegnadete Jungfrau, Mutter der Gläubigen.
Gesegnet bist du unter den Frauen
und gesegnet ist die Frucht deines Leibes,
denn du hast geboren den Heiland unsrer Seelen.

Es ist aber auch möglich, daß wir unsere eigenen Marienlieder schreiben. Das ist gar nicht so schwer, wenn wir uns vor Augen stellen, daß wir keine großen Kunstwerke schaffen müssen, sondern daß wir nur einige einfältige, liturgische Texte zu entwerfen brauchen.

In diesem Sinn habe ich die folgenden Worte zusammengestellt und mir eine einfältige Melodie dazu ausgedacht:

Es  ist  würdig,  auch  dich  zu  preisen,
du reine  hochheilge  Gottesmutter. 
Du bist der Dornbusch, der nicht verbrannte.
In  deinem unversehrten  Leibe wohnte Gott.
Das Geheimnis ist groß:
Wo der Sohn ist, ist auch der Vater,
ist auch  der  Heilige  Geist  -  damals  und  heute.
Lob  und  Ehre,  Preis  und  Anbetung  sei dem Einen,
dreifaltigen  Gott.   Amen.

(Wenn Sie Sich für die Melodie interessieren, klicken Sie bitte hier an.)

Mit der Marienverehrung ist es wie mit den alkoholischen Getränken. Täglich ein Glas Rotwein ist gut für die Gesundheit, zwei Gläser Wein in geselliger Runde sind gut für die gesellige Gemeinschaft; aber ein ständiger und übermäßiger Wein-, Schnaps- oder Biergenuß führt in die Katastrophe. In gleicher Weise ist ein Übermaß an Marien- und Heiligenverehrung ein Verstoß gegen das erste Gebot.