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Die große Brotrede

Erstaunlicherweise gibt es Lutheraner, die die große Brotrede Jesu  (Joh 6,26-59) nicht auf das Abendmahl hin deuten, was doch eigentlich auf der Hand liegt, sondern auf die Wortverkündigung. Damit entziehen sie der Abendmahlstheologie eine ganze Reihe grundlegender Bibelstellen, was wiederum zur Folge hat, daß ihrem Verständnis des Abendmahls die rechte Tiefe und der letzte Ernst fehlt, so daß sie schließlich sogar anfällig sind für einen gewissen Kryptokalvinismus. Es hängt also etwas davon ab, wie die große Brotrede verstanden und ausgelegt wird. Daher ist es die Absicht der folgenden Ausführungen, hier möglichst große Klarheit zu schaffen.

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Bevor Jesus das Heilige Abendmahl eingesetzt hat, hat er dieses hochheilige Sakrament in seiner großen Brotrede ausführlich erklärt und dabei große und schwergewichtige Aussagen gemacht. So hat er erklärt, daß ein Mensch, der kein gültiges Abendmahl empfängt als geistlich tot anzusehen ist:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.
(Joh 6,53)

Hier warnt Jesus die Christenheit, das Abendmahl nicht als eine Art “geistlichen Luxus“ zu betrachten, den man sich nur selten leisten sollte und auf den man notfalls auch verzichten kann. Das Abendmahl ist conditio sine qua non für ein tieferes geistliches Leben. Im Übrigen geht es nicht um irgendein frommes Hantieren mit Brot und Wein, sondern um den Empfang seines wirklichen Fleisches und Blutes. Wer jedoch - so fährt Jesus fort - an der heiligen Kommunion teilnimmt, hat schon jetzt - in diesem Leben - Anteil am ewigen Leben:

Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken.
(Joh 6,54)

Weiterhin verspricht  Jesus dem gläubigen Kommunikanten durch den Empfang dieses hochheiligen Sakramentes die allerengste Gemeinschaft:

... mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.
(Joh 6,55+56)

Diese Gemeinschaft “er in mir und ich in ihm“ ist deutlich mehr als die Mahlgemeinschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern, auf die sonst in der Theologie gern hingewiesen wird. Jesus verspricht dem, der sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt, eine viel engere Gemeinschaft.

Offenbar ist es diese enge Gemeinschaft, die den gläubigen Christen stark macht gegen viele Anfechtungen und Versuchungen. Andersherum: Die übliche Geringschätzung des Abendmahls dürfte eine der Hauptursachen sein für den Niedergang der Christenheit, für die Glaubensarmut und den Sittenverfall bis in die Pfarrämter und Kirchenleitungen.

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Nun gibt es allerdings immer wieder Theologen, die bestreiten, daß in der großen Brotrede Jesu vom Abendmahl die Rede ist. Das sei keineswegs der Fall. Jesus rede hier vielmehr von der Verkündigung des Evangeliums.

Gegen diesen Einwand spricht eine ganze Reihe von Argumenten, die in ihrer Übereinstimmung bestätigen, daß in der großen Brotrede Jesu nur vom Heiligen Abendmahl die Rede sein  kann.

Erstens: Wenn Jesus bei der Einsetzung des Heiligen Abendmahls erklärt, das dabei verteilte Brot sei sein Leib und der dabei herumgereichte Kelch enthalte sein Blut und wenn er bei anderer Gelegenheit ankündigt, er werde sein Fleisch und sein Blut zu essen und zu trinken geben, dann ist es doch äußerst naheliegend, daß mit den fast gleichen Worten auch die gleiche Sache gemeint sein muß, nämlich die heilige Eucharistie. Und das ist um so naheliegender und geradezu zwingend, wenn Jesus gleich viermal betont hintereinander von seinem Fleisch und seinem Blut spricht ( Joh 6,53-56).

Zweitens: In Vers 51 findet sich die Gleichung “Brot=Fleisch“:

... das Brot, das ich geben werde, das ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt.
(Joh 6,51)

Die Gleichung “Brot=Fleisch“ ist gut verständlich, wenn hier vom Abendmahl die Rede ist. Wenn es jedoch um die Predigt des Evangeliums ginge, wäre eine solche Gleichsetzung ganz unverständlich.

Drittens: Die bildliche Symbolik der drei Zentralbegriffe in dieser Rede “Brot“, “Fleisch“ und “Blut“ paßt bestens zum Abendmahl, zur Verkündigung des Evangeliums dagegen kaum oder gar nicht. Welche bildliche Symbolik sollte das “Trinken des Blutes“ haben, wenn es um die Predigt ginge? Ist es vorstellbar, daß in der langen Zeit der Kirchengeschichte irgendein Prediger auch nur ein einziges Mal  das Bild vom “Bluttrinken“ aufgenommen hat, um damit einen Aspekt der Wortverkündigung auszumalen?

Viertens: Jesu Zuhörer verstehen seine Ausführungen wörtlich und sind entrüstet:

Da stritten die Juden untereinander und sprachen: Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben?
(Joh 6,52)

Wenn die Zuhörer Jesus falsch verstanden hätten, hätte Jesus ihnen in seelsorgerlicher Liebe erklären müssen, was er wirklich gemeint hat, daß er nämlich seine heilbringenden Worte gemeint habe, als er von “Fleisch und Blut“ gesprochen habe. Eine solche Erklärung gibt Jesus jedoch nicht ab; statt dessen beharrt er auf der anstößigen Wortwahl:

Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.
(Joh 6,53)

Die unnachgiebige Antwort Jesu auf die Irritation seiner Zuhörer kann nur bedeuten: Doch, ihr habt mich recht verstanden. Ich werde tatsächlich mein Fleisch und mein Blut zum Essen und zum Trinken anbieten. Wartet ab, ihr werdet sehen, wie das erstaunlicherweise tatsächlich ohne Ekel und ohne Kannibalismus möglich sein wird.

Schließlich ist noch auf die wichtige Auslegungsregel hinzuweisen, nach der alles, was in der Bibel wörtlich verstanden werden kann, auch wörtlich verstanden werden muß. Es ist nicht erlaubt, irgendein Wort, das wörtlich verstanden werden kann, willkürlich umzudeuten. Kann man die Aussage Jesu, er werde sein Fleisch und sein Blut zu essen und zu trinken geben, wörtlich verstehen? Die Baptisten und Calvinisten werden das bestreiten: Im Abendmahl sei realerweise nur Brot und Wein vorhanden; also müsse man die Worte Jesu anders deuten.

Ein lutherischer Theologe - wenn er ein wirklich lutherischer Theologe ist und nicht ein Kryptocalvinist - wird das anders sehen. Für ihn ist es klar: Im Abendmahl ist der wahre Leib und das wahre Blut gegenwärtig. Das aber heißt: Zumindest ein lutherischer Theologe muß bekennen: Wenn Jesus in der großen Brotrede von seinem Leib und Blut spricht, die er zu essen und zu trinken geben wird, kann das wörtlich verstanden werden. Also muß es wörtlich verstanden werden. Folglich redet Jesus hier von seinem im Heiligen Abendmahl real gegenwärtigen Fleisch und Blut.

Wenn man nun die verschiedenen Argumente nebeneinanderstellt, ist nur ein Schluß möglich: Jesus redet in seiner großen Brotrede vom zukünftigen Heiligen Abendmahl, und er macht dabei die allergrößten Verheißungen, warnt allerdings auch vor falschen Abendmahlsfeiern, in denen nur Brot und Wein ausgeteilt werden, nicht aber sein geheimnisvoll-sakramentaler Leib und sein Blut. Wer nicht ein gültiges Abendmahl empfängt, hat “kein Leben“ in sich.

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Nun wenden allerdings manche Theologen ein, in der großen Brotrede könne nicht vom Abendmahl die Rede sein, denn Jesus habe in Vers 63 gesagt:

das Fleisch ist nichts nütze.
(Joh 6,63)

Über diesen Einwand kann man sich nur wundern. Wenn mit “Fleisch“ nicht das Fleisch der Eucharistie gemeint sein soll, sondern die Predigt des Evangeliums, dann wäre ja dementsprechend die Verkündigung Jesu und der Kirche nichts nütze! Was wäre mit einer solchen Umdeutung gewonnen?

Das Problem dieses Verses liegt ja offenbar an einer anderen Stelle. Die Bibel drückt sich hier offenbar verkürzt aus. Es muß sinngemäß ein Wort hinzugefügt werden, wie das auch an anderen Stellen der Bibel nötig ist. So ergänzt beispielsweise die Zürcher Bibel den folgenden Vers gleich viermal durch ein in Klammern gesetztes Wort, das sich im griechischen Urtext nicht findet:

»Wenn jemand in Gefangenschaft [führt], geht er [selbst] in Gefangenschaft«; wenn jemand mit dem Schwert töten wird, muß er [selbst] mit dem Schwert getötet werden. Hier ist die Standhaftigkeit und der Glaube der Heiligen [vonnöten].
(Offb 13,10)

Solche in Klammern gesetzte Einschübe wären an vielen Stellen nötig, sie fehlen aber in aller Regel, so daß der deutsche Bibelleser manche Verse kaum versteht. So heißt es beispielsweise im Lukasevangelium am Ende des Gleichnisses vom ungerechten Haushalter:

Und der Herr lobte den ungerechten Haushalter, daß er klüglich gehandelt hatte ...
(Lk 16,8)

Wieso lobt Jesus einen ungerechten Menschen? Gemeint ist natürlich, daß Jesus den ungerechten Haushalter nur in einer ganz bestimmten Hinsicht gelobt hat, nämlich daß er sich immerhin klug verhalten hat. Es müßten also auch hier ein oder zwei Worte hinzugefügt werden, damit der rechte Sinn für den deutschen Leser unmißverständlich klar wird:

Und der Herr lobte den ungerechten Haushalter (insofern), daß er (jedenfalls) klüglich gehandelt hatte

Im 1. Johannesbrief stehen die folgenden mißverständlichen Worte:

Wir wissen, daß, wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht, sondern wer von Gott geboren ist, den bewahrt er, und der Arge wird ihn nicht antasten.
(1.Joh 5,18)

Behauptet Johannes, daß ein Christ ein absolut sündloses Leben führen kann? Das ist gewiß nicht der Fall. Aus dem Gesamtzusammenhang dieses Briefes ergibt sich vielmehr, daß auch ein gläubiger Christ leider noch sündigt (1.Joh 1,8), daß er aber nicht mehr mutwillig sündigt. Das Wort “mutwillig“ ist offenbar hier wie auch an mehreren anderen Stellen des 1.Johannesbriefes sinngemäß einzufügen.

Es gibt in der Bibel viele Stellen, die man nur dann richtig versteht, wenn man in Gedanken das eine oder andere Wort hinzufügt. Das ist offenbar auch in Joh 6,63 der Fall. Der Satz ist offenbar wie folgt zu ergänzen:

das Fleisch (allein) ist (ohne den Glauben) nichts nütze.
(Joh 6,63)

Auf diese Weise ergänzt paßt dann auch dieses Wort bestens zu einem eucharistisch-sakramentalen Verständnis der großen Brotrede.

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Nun berufen sich manche Theologen aber auch auf Luther, der ebenfalls erklärt hat, in Johannes 6 sei nicht vom Abendmahl sondern von der Predigt die Rede. Was ist dazu zu sagen?

Zunächst: Luther äußert sich - wie auch sonst öfter -  in dieser Frage widersprüchlich. In einer Predigt vom 12.November 1530 sagt er über die Speise der großen Brotrede:

Des Menschen Sohn, welchen du vor dir siehst, der wird sie dir austheilen, von dem sollst du die Speise, sein Fleisch und sein Blut empfahen. Derhalben so sehet zu, greift nach der Speise, die er, Christus, selber ist, nämlich da sein Leib und Blut ist.
(Walch2 7,2205)

Später legt er allerdings in der gleichen Predigt eine doppelte Deutung zugrunde. Er spricht von der geistlichen Speise,

welche ist, die Lehre des heiligen Evangelii von Christo und seinem Leib und Blut, uns geschenkt, welches durch den Glauben von uns ergriffen wird.
(Walch2 7,2209)

Eindeutig gegen das sakramentale Verständnis äußert er sich allerdings in einer Predigt vom 25. Februar 1531. Hier erklärt er,

daß dies Capitel nicht redet von Sacramentis, sondern von der geistlichen Nießung und essen. Denn droben hat er gesagt: Wer Christum hört und an ihn glaubt, der solle das ewige Leben haben ... Darum so kann’s nicht gezogen werden aufs Sacrament. Denn viele nehmen es zum Verdammnis und Gerichte und haben nicht das ewige Leben ...
(Walch2 7,2324)

In der Aussage, daß eine Kommunion ohne Glaube nichts nützt, sondern im Gegenteil Verdammnis und Gericht bewirkt, kann man Luther nur zustimmen. Das Gleiche gilt allerdings auch für die Predigt. Eine ungläubig aufgenommene Predigt bewirkt ein noch tieferes Abgleiten in die Gottesferne oder sogar in die endgültige Verstockung. Es ist aber nicht so, daß die Bibel das jedesmal so genau und ausführlich darlegt. So schreibt der Apostel Paulus im Römerbrief:

So kommt der Glaube aus der Predigt.
(Rm 10,17)

Gemeint ist selbstverständlich die gläubige Predigt. Die Predigt eines modernen Bultmann- oder Lüdemannschülers bewirkt selbstverständlich keinen Glauben. Aber auch eine gläubige Predigt findet nicht bei jedermann gläubige Zustimmung. Manchmal verstockt sie auch.

Der Satz des Apostels muß also auf zweifache Weise ergänzt werden:

Eine gläubige Predigt bewirkt bei einem aufnahmebereiten Hörer den rechten christlichen Glauben.

Die Bibel verzichtet allerdings in vielen Fällen darauf, alle möglichen Voraussetzungen und notwendigen Bedingungen zu erwähnen. Sie liebt vielmehr die knappen, zugespitzten Sätze und erwartet von uns, daß wir sie mit einfühlsamen Verständnis lesen.

Um das noch an einem zweiten Beispiel zu zeigen, sei noch eine andere Stelle aus dem Römerbrief angeführt, wo Paulus mit folgenden Worten auf die Adam-Christus-Parallele hinweist:

Wie nun durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung zum Leben für alle Menschen gekommen.
(Rm 5,18)

Durch Adams Sünde ist ja in der Tat Gottes Zorn über die ganze Menschheit gekommen, aber ist durch Christi Heilshandeln in gleicher Weise die Rechtfertigung “für alle“ Menschen gekommen? Das ist zweifellos nicht der Fall, denn durch den Kreuzestod Christi können zwar potentiell alle Menschen gerechtfertigt werden. Es werden tatsächlich aber nur die Gläubigen gerechtfertigt. Über den Ungläubigen bleibt Gottes Zorn bestehen. Die Aussage des Apostels muß also ergänzt werden, etwa so:

Wie nun durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung zum Leben für alle Menschen gekommen, so weit sie bereit sind, an Jesus Christus zu glauben.

Auch dieses Beispiel zeigt, daß die Bibel manchmal wichtige Vorbedingungen oder Einschränkungen unerwähnt läßt, und lieber kurz, markant und eingängig formuliert. Sie vertraut darauf, daß der gläubige Bibelleser solche Sätze verständnisvoll liest und nicht zu falschen Schlußfolgerungen gelangt.

Wenn man das weiß, erkennt man, daß Luthers Einwand gegen ein eucharistisches Verständnis der großen Brotrede unberechtigt ist. Wenn Jesus beispielsweise sagt:

wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.
(Joh 6,37)

so ist selbstverständlich ein vertrauensvolles Kommen zu Jesus gemeint, nicht ein bloß neugieriges Kommen oder gar ein ablehnendes Belauern - unabhängig davon, ob hier nun der predigende Christus oder der eucharistische Herr gemeint ist.

Oder wenn Jesus sagt:

Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit.
(Joh 6,51)

so ist damit selbstverständlich ein gläubiges Essen gemeint - ob man unter dem Essen nun die heilige Kommunion versteht oder das Anhören des Evangeliums.

Oder wenn Jesus sagt:

Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.
(Joh 6,65)

so ist natürlich ein gläubiges Essen und Trinken gemeint - gleichgültig welche Deutung man im Auge hat, die eucharistische oder die kerygmatische.

Wenn ich aber in allen diesen Worten den Glauben als selbstverständliche Voraussetzung hinzudenken muß, dann ist ja überhaupt nichts gewonnen, wenn ich die Worte “Leib und Blut“ durch “Evangelium“ oder “Predigt“ ersetze. Das heißt aber: Luthers Einwand geht ins Leere! Seine gewaltsame Umdeutung ist völlig überflüssig. Ja, sie entwertet wichtige Aussagen für die biblische Sakramentstheologie und gewinnt für das Verständnis der Predigt des Evangeliums nichts, was nicht schon von anderen Bibelstellen klar ist. Hier hat der große Reformator geirrt.

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Nun wird gelegentlich sogar auf die lutherischen Bekenntnisschriften hingewiesen, und es wird behauptet, das lutherische Bekenntnis lehne die sakramentale Deutung der großen Brotrede ab. Diese Behauptung ist falsch.

Es gibt drei Stellen in der Solida Declaratio, die für unsere Frage untersucht werden müssen. In Artikel VIII,59 geht es um die menschliche Natur Jesu Christi. In diesem Zusammenhang heißt es:

(Die Schrift) deutet auch ausdrücklich auf sein angenommene menschliche Natur 1.Joh 1.: “das Blut Christi reiniget uns von allen Sünden“ ... Also Ioh 6. ist das Fleisch Christi eine lebendigmachende Speise ...

Da es um die menschliche Natur Jesu geht und von Predigt und Wortverkündigung in diesem ganzen Zusammenhang überhaupt keine Rede ist, kann hier nur das Sakrament des Leibes und Blutes Jesu gemeint sein. Und wenn in diesem Zusammenhang auch auf das 6. Kapitel des Johannesevangeliums hingewiesen wird, so heißt das: Die Solida Declaratio deutet die große Brotrede an dieser Stelle sakramental!

Im Artikel VII,64+65 heißt es von Jesus:

da er ... seinen Jüngern natürlich Brot und natürlichen Wein reichet, welche er seinen wahren Leib und sein wahres Blut nennet und dabei saget: “Esset und trinket“: so kann ja solcher Befehlich vermüge der Umbstände nicht anders als von dem mündlichen Essen und Trinken, aber nicht auf grobe, fleischliche, kapernaitische, sondern auf übernatürliche, unbegreifliche Weise verstanden werden ...

Um es modern auszudrücken: Wenn Jesus im Abendmahl vom Essen und Trinken seines Leibes und Blutes spricht, so ist nach den damaligen Umständen ein wirkliches Essen und Trinken gemeint - allerdings nicht auf “grobe, fleischliche, kapernaitische Weise“, sondern es geht um ein geistliches, gläubiges Essen und Trinken.

Hier enthält das Wort “kapernaitisch“ den Hinweis auf die große Brotrede. Nach Joh 6,52 haben ja in der Synagoge in Kapernaum einige Juden Jesus grob mißverstanden, in dem sie meinten, Jesus spräche von einem einfachen Essen seines Fleisches ohne den dazugehörigen Glauben. Ein solches “kapernaitisches“ Essen und Trinken weist die Solida Declaratio mit Recht zurück. Trotzdem spricht sie von einem wirklichen “mündlichen Essen und Trinken“. Wir sehen also, daß die Solida Declaratio auch hier die große Brotrede auf das Abendmahl hin versteht.

Ein kleinwenig anders sieht es allerdings an der dritten Stelle aus, an der die Solida Declaratio das 6. Kapitel des Johannesevangeliums erwähnt:

So ist nun zweierlei Essen des Fleisches Christi, eines geistlich, davon Christus Joh 6. fürnehmlich handelt, welches nicht anders als mit dem Geist und dem Glauben in der Predigt und Betrachtung des Evangelii ebensowohl als im Abendmahl geschieht ...
(SD VII,61)

Hier wird im Zusammenhang mit Joh 6 erklärt, mit dem “Essen des Fleisches Christi“ sei vor allem ein geistliches Essen gemeint, was sowohl im gläubigen Hören der Predigt oder auch im Nachdenken über das Evangelium als auch im gläubigen Empfang des Abendmahls geschieht. In dieser Stelle der Solida Declaratio wird die große Brotrede also sowohl auf die Predigt als auch auf das Sakrament hin gedeutet.

Es ist also nicht wahr, wenn jemand behauptet, die Solida Declaratio weise die Deutung auf das Abendmahl ab. Wahr ist allerdings, daß SD VII,61 die Deutung der Brotrede auf die Wortverkündigung zuläßt oder sogar nahelegt.

Ich halte eine solche Auslegung der Brotrede Jesu auf die Wortverkündigung für problematisch. Ich kann zwar die Intention bejahen: Man kann die Sakramente ja tatsächlich als eine besondere Art der Verkündigung betrachten. Das gilt auch für das Abendmahl. Auch dieses Sakrament kann als eine besondere Art der Verkündigung angesehen werden. Darüber hinaus muß das Abendmahl auch immer wieder von einer eindringlichen Verkündigung begleitet werden, damit es nicht mißverstanden wird als ein bloßes Gemeinschaftsmahl oder sogar als eine magische Handlung, die auch ohne den Glauben des Empfängers nützlich und wirksam ist. Man kann sogar sagen: Ein Christ kann zur Not auch ohne das Abendmahl auskommen, ohne die Wortverkündigung geht es nicht.

Trotzdem sollte man das Abendmahl nicht einfach nur als Spezialfall der Predigt betrachten. Das Abendmahl gibt etwas, was keine Predigt vermag: die leibliche Berührung mit dem Erlöser Jesus Christus. Diese leibliche Berührung schenkt dem gläubigen Christen eine Eindeutigkeit der Heilsgewißheit, wie sie keine Predigt allein vermitteln kann. Wenn der Glaube auch noch so klein sein mag - wer gläubig zum Abendmahl kommt, ist angenommen:

Ich bin das Brot des Lebens ... Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.
(Joh 6,35+37)

Was der kleingläubige Christ beim Hören der Predigt kaum wagen kann, auf sich selber zu beziehen, wird ihm im Abendmahl deutlich in die Hand oder in den Mund gelegt:

Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit.
(Joh 6,51)

Es ist eine seelsorgerliche Katastrophe, wenn der arme, angefochtene, demütige, kleingläubige Christ nicht belehrt wird über die Möglichkeit, seinen Heiland im Abendmahl leiblich berühren zu können, und was das für seine Heilsgewißheit bedeutet.

Was über das Hören der Predigt gesagt werden muß, kann an Hand vieler anderer Bibelstellen gesagt werden. Die große Brotrede sollte dafür genutzt werden, wofür sie Jesus gewollt hat: zur intensiven und tröstlichen Belehrung über das Altarsakrament.

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Ich fasse zusammen: Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Argumente, die insgesamt zwingend für ein eucharistisches Verständnis der großen Brotrede Jesu sprechen.

Wer dagegen die große Brotrede auf die Wortverkündigung hin auslegt, versäumt die Möglichkeit einer besonders intensiven und tröstlichen Abendmahlsbelehrung. Er wird damit schuldig insbesondere an den demütigen, angefochtenen und glaubensschwachen Christen.

Überhaupt muß die Kirche - wie oben schon gesagt - Joh 6,26-59 viel ernster nehmen, als das normalerweise der Fall ist! Sehr ernst zu nehmen ist beispielsweise die Aussage Jesu, daß ein Christ ohne gültigen Abendmahlsempfang nicht das volle geistliche Leben besitzt.

Die Kirche muß ferner mit vollem Ernst danach fragen, welche Voraussetzungen nötig sind, daß ein gültiges Abendmahl zustande kommt. Wie muß der Wandlungssegen vollzogen werden? Ist ein bloß erzählendes Vorlesen der Einsetzungsworte ausreichend? Braucht es dazu möglicherweise eine Epiklese? Jedenfalls: Irgendein beliebiges Agieren mit Brot und Wein genügt ganz gewiß nicht, um der Gemeinde das tatsächliche Fleisch und das tatsächliche Blut Jesu Christi darzureichen, an welche der Sohn Gottes in der großen Brotrede so sehr große Verheißungen gebunden hat.

Karsten Bürgener

 

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