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Der Verlust der Apostolischen Sukzession in der Reformationszeit
1. Was ist unter „apostolischer Sukzession“ zu verstehen?
Die deutsche evangelische Theologie hat den Begriff der „apostolischen Sukzession“ früher unbeachtet gelassen. Die apostolische Sukzession des Bischofsamtes erschien überflüssig, denn einmal übten ja bis zum Ende des 1. Weltkrieges die Fürsten das Amt der evangelischen Kirchenleitung aus, und zum anderen leitete man das evangelische Pfarramt nicht von der Vollmacht des Bischofs, sondern von einem falsch verstandenen „allgemeinen Priestertum“ ab.
Im Zeitalter der Ökumene kommt die evangelische Theologie allerdings nicht umhin, sich mit diesem Begriff auseinanderzusetzen, der in unserer Zeit zunehmend einen positiven Klang bekommt. Das geschieht allerdings oftmals so, daß der Begriff der „apostolischen Sukzession“ umgedeutet wird, damit er auch für die evangelische Kirche geltend gemacht werden kann als eine Sache, die wir längst haben.
So erklären beispielsweise die deutschen evangelischen Landesbischöfe gerne, die „apostolische Sukzession“ bestünde in der Sukzession der rechten Lehre. In dieser Aussage ist ja durchaus ein Element der Wahrheit vorhanden. Es gibt in der Tat eine von den Aposteln bis heute lebendige Überlieferung, daß Jesus wirklich von den Toten auferstanden ist; daß der christliche Glaube nicht auf Mythen, sondern auf Heilstatsachen beruht; daß die Bibel Gottes inspiriertes und unfehlbares Wort darstellt usw. In dieser Sukzession der reinen Lehre stand z. B. meine Patentante, weitgehend auch meine Großmutter. Nun ist diese Sukzession aber gerade bei vielen heutigen Theologen mehr oder weniger abgebrochen, und ob ausgerechnet die deutschen evangelischen Landesbischöfe sich auf eine solche Sukzession der Lehre berufen können, kann wohl in den allermeisten Fällen angezweifelt werden.
Manchmal wird auch die „presbyterale Sukzession“ als „apostolische Sukzession“ bezeichnet. Das ist aber schon insofern falsch, als es im Laufe der früheren Kirchengeschichte zwar vereinzelte - offenbar ungültige - presbyterale Ordinationen gegeben hat, aber keine durchgehende Sukzession, die bis zu den Aposteln zurückreicht. Eine „presbyterale Sukzession“ gibt es ja faktisch erst seit der Reformation. Auf die Frage, ob dies eine gültige Sukzession ist, komme ich später zurück.
In jedem Fall versteht man unter der „apostolischen Sukzession“ herkömmlicherweise etwas anderes. Man versteht darunter die seit den Aposteln ununterbrochene Kette segnender Handauflegungen, durch die das vollmächtige Bischofsamt durch die Jahrhunderte hindurch weitergegeben wurde. In diesem Sinn steht keiner der deutschen evangelischen Landesbischöfe in„apostolischer Sukzession“, obwohl man manchmal andere Behauptungen hören kann. Dagegen ist die Sukzession des Bischofsamtes zweifellos in der katholischen und in den verschiedenen orthodoxen Kirchen gegeben, aber auch die anglikanischen und schwedischen Bischöfe sind sich sicher, daß sie in apostolischer Sukzession stehen - wenn in diesen beiden Fällen auch die römisch-katholische Kirche Einspruch erhebt - ob zu Recht oder Unrecht, ist eine schwierige Frage. Und nun hat neuerdings auch die kleine deutsche hochkirchliche Bewegung in ihren Bruderschaften das Bischofsamt in „apostolischer Sukzession“ zurückgewonnen.
Es muß also betont werden, daß herkömmlicherweise unter „apostolischer Sukzession“ nur die Sukzession des bischöflichen Amtes verstanden wird; und in diesem ausschließlichen Sinn wird der Begriff „apostolische Sukzession“ auch in diesem Vortrag immer nur gebraucht.
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Ein evangelischer Theologe muß sich ja zuerst die Fragen stellen: „Was sagt denn die Bibel“ zu diesem Thema? Nun, wenn man das Neue Testament nach den kirchlichen Ämtern befragt, bekommt man leider eine verwirrende Auskunft. Da gibt es neben den Diakonen Älteste, Hirten und Lehrer, Führende (hägumenoi), „Bischöfe“ - die mit den Ältesten in eins gesetzt werden - usw. Es ist also schwer, aus dem Neuen Testament eine klare, eindeutige, urchristliche Ämterlehre abzuleiten.
Eindeutig und von Anfang an klar ist jedoch die alte kirchliche Tradition. Clemens Romanus erklärt in seinem Brief an die Korinther, daß die urchristlichen Ämter auf Anordnung durch Jesus Christus von den Aposteln eingesetzt worden sind1, und zwar als ein dreifaches Amt von Bischöfen, Priestern und Diakonen. Clemens spricht dabei allerdings, wie das in der alten Kirche vielfach üblich war, vom „Hohenpriester“ und von den „Priestern“ und „Leviten“, er meint damit aber ganz zweifellos die Bischöfe, Priester und Diakone. Clemens erklärt als eine Anordnung Jesu Christi:
... es sind dem Hohenpriester eigene Verrichtungen übertragen, den Priestern ist ihr eigener Platz verordnet und auch den Leviten obliegen eigene Dienstleistungen; der Laie ist an die Anordnungen für Laien gebunden.
(1.Clem 40,5)
Hier beschreibt Clemens - wohlgemerkt! - nicht die Situation des alten Bundes, sondern die Anordnung Jesu Christi für die Kirche!
Wenn Clemens Recht hat, hat es also keine Entwicklung der urchristlichen Weiheämter gegeben. Das dreifache Amt ist demnach von Jesus Christus definiert und vorausschauend angeordnet worden. Die Apostel haben sich an diese Anordnungen gehalten und die Ämter eingesetzt, als sich dafür das entsprechende Bedürfnis regte, wie wir es in der Apostelgeschichte anläßlich der ersten Diakonenweihen nachlesen können (AG 6,1-6).
Jeder, der eine evolutionäre Entstehung der urchristlichen Weiheämter behauptet, setzt also einen ehrenwerten altkirchlichen Bischof ins Unrecht. Das sollte niemand tun, der nicht stichhaltige Beweise hat, daß Clemens eine falsche Behauptung aufstellt oder womöglich wissentlich lügt. Solche Beweise aber gibt es nicht. Es gibt nur die ständig wiederholte Theorie, daß die urchristlichen Ämter sich entwickelt haben müßten, und alles, was dieser Theorie widerspricht, wird in unserer Zeit als unwahr hingestellt. Auf eine solche Argumentation sollte sich jedoch kein redlicher Theologe einlassen.
Zur Glaubwürdigkeit des Clemens Romanus sollte man auch noch folgendes bedenken: Clemens, der noch von Petrus selber ordiniert worden ist2, hat diese Erklärung zu einer Zeit abgegeben, da in Kleinasien vielleicht noch der letzte Apostel lebte und wo man sich zumindest in Rom noch gut an die Wirksamkeit und Lehre der Apostel Petrus und Paulus erinnern konnte. Auch die Empfänger dieses Briefes haben die Aussagen des Clemens offenbar widerspruchslos akzeptiert. Im übrigen hat der 1. Clemensbrief in der alten Kirche eine fast kanonische Geltung erhalten, was man daran erkennen kann, daß er in manchen Bibelhandschriften an den neutestamentlichen Kanon angehängt worden ist.
Nach Clemens bezeugt auch Ignatius von Antiochien unermüdlich das dreifache Amt, wobei er jedoch abweichend von Clemens die uns heute geläufige Terminologie gebraucht und von „Bischöfen“, „Priestern“ und „Diakonen“ spricht.
Wie Clemens Romanus bezeugt auch Irenäus noch einmal, daß die urkirchlichen Ämter auf die apostolische Tradition zurückgehen, und das heißt ja letztlich, auf Jesus Christus selbst:
Der Pfad der Anhänger der Kirche aber umkreist die ganze Welt, da er ja von den Aposteln her eine feste Tradition hat und bei uns allen ein und denselben Glauben sehen läßt, indem alle einen und denselben Gott Vater lehren und dieselbe Heilsordnung der Menschwerdung des Sohnes Gottes glauben und dieselbe Gabe des Geistes kennen, dieselben Gebote beachten, dieselbe Form der kirchlichen Verfassung bewahren und auf dasselbe Heil des ganzen Menschen, d.h. der Seele und des Leibes hoffen.
(Adv haer V,20,1)
Diese Aussage des Irenäus ist schon deshalb glaubhaft, weil es in der ganzen damaligen Vielvölkerkirche von Spanien bis Persien tatsächlich überall und übereinstimmend das dreifache Weiheamt der Bischöfe, Priester und Diakone gab. Und diese Übereinstimmung weist eindeutig zurück auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt, der bei den zwölf Aposteln bzw bei Jesus Christus gelegen haben muß.
Noch einmal: Im Gegensatz zu den klaren Aussagen der alten Kirche wird ja immer wieder eingewandt, das dreifache Amt ginge nicht auf Jesus Christus und die zwölf Apostel zurück, sondern es habe sich aus einer ursprünglichen Vielfalt zu einer späteren Einheitlichkeit „entwickelt“. Diese Behauptung ist zurückzuweisen. Niemals entwickelt sich eine Einheitlichkeit aus einer ursprünglichen Vielfalt. Das ist sozusagen gegen den zweiten thermo-dynamischen Hauptsatz!
Man kann sich das sehr gut am Beispiel unserer Gesangbuchlieder vor Augen halten: Wenn es ein geistliches Lied gibt, das sich durchsetzt und von vielen Generationen und sogar von verschiedenen Völkern gesungen wird, dann verändert sich meistens auch die Melodie. Fast alle diese Lieder werden nach längerer Zeit und von verschiedenen Völkern mit mehr oder weniger großen Varianten gesungen. Daß sich dagegen aus zwei verschiedenen Melodien eine einheitliche neue Melodie entwickelt, ist so gut wie ausgeschlossen.
Nun ist es zwar möglich, daß irgendeine Instanz mit großer Autorität dafür sorgt, daß eine Melodie, die im Laufe der Zeit mit vielen Varianten gesungen wird, wieder überall nach einer einzigen, einheitlichen Fassung gesungen wird; es ist dazu aber eine starke Autorität nötig, sonst gibt es keine Vereinheitlichung. Nun ist aber gerade in der Zeit, in der sich angeblich die vielfältigen urchristlichen Ämter auf das einheitliche Schema des dreifachen Weiheamtes hin entwickelt haben sollen, von einer solchen Autorität nichts zu spüren. Vielleicht hätten das spätere Konzil zu Nizäa und die staatliche Macht des Kaisers Konstantin eine Vereinheitlichung der Ämter erzwingen können, aber das dreifache Amt gab es ja schon viel früher. Von alleine aber, als Ergebnis einer ungesteuerten Entwicklung, kann es keine Vereinheitlichung vieler verschiedener Ämter zu einer einfacheren Struktur gegeben haben. Das ist unmöglich.
Was wir im Neuen Testament vorfinden, ist offensichtlich eine Vielfalt von Amtsbezeichnungen und Titeln, nicht eine entsprechende Vielfalt von Ämtern! Wir kennen das gleiche Phänomen ja auch aus unseren deutschen Landeskirchen. Was in Norddeutschland ein „Pastor“ ist, wird in anderen Teilen Deutschlands als „Pfarrer“ bezeichnet. Was in manchen Landeskirchen „Superintendent“ heißt, heißt in anderen Landeskirchen „Dekan“ oder „Probst“. Was bei uns in Bremen ein „Kirchenvorsteher“ ist, wird anderswo als „Kirchenältester“ oder „Presbyter“ bezeichnet.
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Wenn man also verstanden hat, daß eine Vielzahl von Amtsbezeichnungen nicht automatisch die gleiche Vielfalt von Ämtern bedeutet und wenn man außerdem das Neue Testament im Licht der ältesten kirchlichen Tradition liest, liegen die Dinge sehr klar.
Daß in der urchristlichen Kirche die Apostel die Inhaber der höchsten Autorität waren, versteht sich von selbst. Ihnen mußten sich alle anderen Ämter unterordnen. Als Fortsetzung dieser apostolischen Autorität zeichnet sich schon in den Pastoralbriefen das spätere Bischofsamt ab. Timotheus hat nicht nur zu ordinieren, er ist auch Disziplinarvorgesetzter der von ihm eingesetzten Amtsträger. Die „apostolische Sukzession“ ist also schon im Neuen Testament zu beobachten. Es handelt sich dabei um die Weitergabe der höchsten kirchlichen Amtsvollmacht - im Neuen Testament zunächst von den Aposteln zu den Bischöfen - später dann, das zeigt die spätere Kirchengeschichte, von einem Bischof zum anderen. Zwar haben auch die übrigen kirchlichen Ämter Anteil an der apostolischen Amtsvollmacht, aber in geringerem Umfang und nur abgeleitet von den Bischöfen, die sie ordiniert haben.
Der Begriff der „apostolischen Sukzession“ bedeutet also, daß das höchste kirchliche Leitungsamt in ununterbrochener Kette von den Aposteln über die Bischöfe weitergegeben worden ist; daß das Bischofsamt also die höchste kirchliche Autorität darstellt; daß in diesem Amt die apostolische Autorität bis auf den heutigen Tag fortbesteht. (Auf den Sonderfall des Bischofs von Rom möchte ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen, das ist ein Thema für sich.)
2. Die beiden Komponenten der apostolischen Sukzession
Nun ist jedoch zu beachten: Die Apostel und ihre Nachfolger, die Bischöfe, haben eine doppelte Vollmacht. Da ist einmal die jurisdiktionelle Vollmacht, von der eben so betont die Rede war. Die apostolische Sukzession enthält aber auch eine benediktionelle Vollmacht. Das wird leider vielfach übersehen.
Dazu muß man wissen, daß nicht jeder Mensch jede Segensvollmacht besitzt. Als Jakob seinem Bruder Esau zuvorgekommen war und sich den Erstgeburtssegen erschlichen hatte, den ihm nur der Vater Isaak erteilen konnte, konnte Esau sich nicht von einem beliebigen Knecht den gleichen Segen erteilen lassen. Und als der moabitische König Balak den Propheten Bileam aus dem fernen Zweistromland holen ließ, damit er das Volk Israel verfluche, hat Balak zu ihm gesagt:
... ich weiß, wen du segnest, der ist gesegnet, und wen du verfluchst, der ist verflucht.
(4.Mose 22,6)
Hier wird die Erkenntnis ausgesprochen, daß es auch einen leeren Segen gibt - das Aussprechen eines Segenswunsches ohne Vollmacht - ein Erheben der Hände oder eine Handauflegung, bei der nichts geschieht.
So tun, als ob man einen Segen erteilt, kann jeder. Aber einen vollmächtigen Segen tatsächlich erteilen, kann nur derjenige, der die Segensvollmacht von Gott oder von einem von Gott dazu Bevollmächtigten erhalten hat.
Der Hebräerbrief sagt:
Nun ist´s ohn alles Widersprechen so, daß das Geringere von dem Höheren gesegnet wird.
(Hebr 7,7)
Auch nach diesem sehr nachdrücklichen Wort der Heiligen Schrift kann nicht jeder jeden Segen erteilen. Ein Pastor kann einen Konfirmanden einsegnen, ein Konfirmand kann das nicht. Ein Priester kann niemanden zum Bischof einsegnen - auch wenn Luther geglaubt hat, er könne das tun, als er im Jahr 1541 Nikolaus von Amsdorf in das Amt eines Bischofs von Naumburg und im Jahr 1545 Fürst Georg von Anhalt in das Amt eines Bischofs von Merseburg eingeführt hat. Ein Priester bzw Pfarrer kann nicht einmal einen anderen Pfarrer gültig ordinieren, wenn man den Aussagen der ältesten Kirche vor Hieronymus Glauben schenken will. Die Möglichkeit einer presbyteralen Ordination wird bestritten von Hippolyt und von allen auf seine „Traditio Apostolica“ aufbauenden Kirchenordnungen, von Athanasius, Chrysostomos und Epiphanius von Salamis. Erst mit Pseudoambrosius und auf ihn aufbauend Hieronymus gibt es vereinzelt andere Kirchenväteräußerungen. Bis dahin war es in der ältesten Kirche allgemein klar: Nur der Bischof als Inhaber der höchsten Segensvollmacht kann durch den Ordinationssegen einem Pfarrer die Segenskraft mitteilen, durch die auch er seine Gemeinde vollmächtig segnen und durch die er vor allem das heilige Abendmahl gültig konsekrieren kann.
Wenn ich von einer „Segenskraft“ rede, so meine ich damit die Kraft des Heiligen Geistes, die im Segen wirksam ist, die jede Ordination erst gültig macht, und ohne die auch niemand eine gültige Wandlung beim Abendmahl bewirken kann.
Es wird also bei einer Bischofsweihe nicht nur die jurisdiktionelle Vollmacht verliehen, die auf die Apostel zurückgeht, sondern auch die entsprechende Segensvollmacht. Diese beiden Vollmachten muß man unterscheiden und verstehen, wenn man begreifen will, was in der Reformation geschehen ist. Das Problem beginnt allerdings schon im Mittelalter.
3. Fehlende Segenstheologie im Mittelalter
Während die alte Kirche noch wußte, was ein Segen ist, ist dieses Wissen im Mittelalter verlorengegangen. Wenn man bei Thomas von Aquin unter dem Stichwort „Segen“ nachschlägt, findet man sozusagen nichts. Auch der umfangreiche „Römische Katechismus nach dem Beschluß des Konzils von Trient“, der uns ausführlich über den katholischen Glauben informiert und sogar die Bedeutung der Taufkerze oder die Verwendung von Salz bei der Taufe erklärt, sagt zum Segen lediglich an einer einzigen Stelle, daß kein menschliches Werk ohne den Segen Gottes gelingen könne (IV,13,6). Vom kirchlichen Segen, der durch Handauflegung und Gebet vermittelt wird, findet sich kein Wort.
Schon das Konzil zu Florenz (1439) hatte vergessen, daß eine Ordination durch die segnende Handauflegung vollzogen wird, statt dessen konstatiert dieses Konzil in seiner Lehrbestimmung für die Armenier, daß das Sakrament der Weihe durch die Übergabe eines mit Wein gefüllten Kelches und einer Patene mit Brot vollzogen wird unter der begleitenden Formel „Empfange die Gewalt, das Opfer der Kirche darzubringen für Lebende und Tote ...“. Eine Handauflegung mit der entsprechenden Segenspräfation wurde zwar im römischen Weiheformular überliefert und in gehorsamem Formalismus nach wie vor praktiziert, es fehlte aber den meisten katholischen Theologen das Verständnis für diesen Ordinationssegen. Die Dinge waren übrigens bis vor wenigen Jahrzehnten in der katholischen Theologie umstritten, bis Pius XII. 1947 in einer Apostolischen Konstitution die segnende Handauflegung mit der dazugehörigen Präfation zum wesentlichen Bestandteil des Weihesakraments erklärt hat.
Für die mittelalterlich-katholische Theologie bedeutet der Verlust der Segenstheologie, daß die Ordination bzw Priesterweihe einseitig von der jurisdiktionellen Vollmacht der Bischöfe oder des Papstes her begründet wurde. Diese einseitig jurisdiktionelle Sicht konnte so weit gehen, daß ein Priester, der an und für sich nach der offiziellen katholischen Lehre keine Weihevollmacht hat - auch keine unerlaubte - doch Priesterweihen vollziehen konnte, wenn der Papst es erlaubte. Solche Sondererlaubnisse haben die beiden Renaissancepäpste Bonifaz IX. (+ 1404) und Martin V. (+ 1431) erteilt3.
4. Der Verlust der apostolischen Sukzession durch die Reformation
Luther ist am Ende des Mittelalters geboren und hat selber noch mittelalterlich-katholische Theologie studiert. Auch Luther wußte nicht, was ein Segen ist - jedenfalls nicht, was ein durch die Kirche vermittelter Segen ist. Auch seine Katechismen kennen das Wort „Segen“ nur insoweit, als damit Gottes direkte, unsichtbare Hilfe vom Himmel bezeichnet wird. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Äußerungen, die Luthers Unverständnis gegenüber dem kirchlichen Segen deutlich belegen. So schreibt er in seinen „Operationes in psalmos“ (1519-21):
Sodann ist segnen nach dem Brauch der Schrift dasselbe als loben, preisen, Gutes wünschen, wohlwollen. Das Entgegengesetzte ist Fluchen, tadeln, Böses wünschen. Wenn dies von GOtt geschieht, so ist es etwas Wirkliches (res) und ein Werk, denn wenn er spricht, so geschieht es [Ps. 33,9.], wenn es aber von Menschen geschieht, so folgt nichts darauf.
(Walch24,515)
Demnach ist nur der göttliche Segen wirksam, mit dem Gott selber unmittelbar vom Himmel herab segnet. Der menschliche Segen - auch der kirchliche Segen! - ist dagegen unwirksam. Daher empfiehlt Luther auch nicht den kirchlichen, durch Handauflegung und Gebet vermittelten Segen, sondern die Predigt:
Willst du des Segens warten und rechte Gnade erlangen, so laufe dahin, da GOttes Wort ist ...
(„Eine Unterrichtung, wie sich Christen in Mose schicken sollen“ 1525, Walch23,450)
An anderer Stelle erwähnt Luther, wenn er auf den Segen verweist, neben der Predigt auch die Sakramente und die Absolution. Aber auch hier ist der Segen keine eigenständige Größe, sondern nur ein Synonym für die Wirksamkeit Gottes in Wort und Sakrament:
Hieraus sehen wir, daß „segnen“ nichts Anderes ist als, wie ich gesagt habe, das Wort des Evangelii predigen und lehren, Christum bekennen und die Erkenntniß desselben unter alle Völker ausbreiten, und dies ist das priesterliche Amt und das tägliche Opfer der Kirche im Neuen Testamente, welche diesen Segen austheilt durch Predigen, Verwaltung der Sacramente, Absolviren, Trösten und Handeln des Worts der Gnade ...
(Vorlesungsnachschrift „Ausführliche Erklärung der Epistel an die Galater“ 1535 gedruckt / Walch29,325)
Nach solchen Aussagen, die sich noch vermehren lassen, versteht es sich von selbst, daß die segnende Handauflegung für Luther kein notwendiger Ritus ist - nicht von Gott oder Jesus Christus angeordnet - sondern, wie Luther an vielen Stellen betont, ein alter „Brauch“, der auch wegfallen kann:
Zum Kirchendiener, Bischof, Pfarrherrn, Kaplan, oder wie mans nennen will, gehört mehr nicht, denn daß er erstlich eines unärgerlichen Wandels sein, und einen guten Verstand christlicher Lehre habe und dieselbe fein klar könne von sich geben. Wo solches ist, da bedarfs mehr nicht, denn daß solche Personen von der Obrigkeit (!) berufen, und ihnen das Predigtamt und anderer Kirchendienst öffentlich befohlen werden. Dazu mag man die Auflegung der Hände brauchen und dabei beten.
(Predigt am St.Andreastag, Hauspostille 1544 / Walch213a,1028)
Zunächst waren die evangelischen Pfarrer ja rite geweihte katholische Priester. Als sich jedoch die Notwendigkeit eigener Ordinationen ergab, haben Luther und seine Mitreformatoren nicht gewußt, daß es hier auch Segensfragen zu bedenken gab. Sie haben nur die jurisdiktionelle Frage gesehen und sie als zweitrangig beiseite geschoben gegenüber der Notwendigkeit, überzeugte Prediger des rechten Evangeliums zu bekommen. Waren die katholischen Bischöfe nicht bereit, die evangelischen Prediger zu ordinieren, mußte man notfalls auch ohne bischöfliche Ordination auskommen. Im Vergleich zur Notwendigkeit der rechten Lehre erschien die rein jurisdiktionelle Legitimität von sekundärer Bedeutung. - Die Reformation hat ja nicht nur in der Ordinationsfrage jurisdiktionelle Einwände mit dem Argument des Notfalles beiseite geschoben. Im Notfall kann, wie man glaubte, jeder Christ alles: ordinieren, Abendmahl einsetzen, Beichte hören, absolvieren usw.
In diesem Zusammenhang ist nun folgendes wichtig: Da es bei der bischöflichen Ordination, wie man meinte, um eine rein jurisdiktionelle Frage ging, kam auch nur eine Ordination durch solche katholischen Bischöfe in Frage, die noch im Amt standen. Ein zum Luthertum konvertierter Bischof, wie der Würzburger Weihbischof Johann Pettendorfer, hatte ja sein Amt verloren und damit, wie man meinte, keine Jurisdiktion mehr. Daß man von ihm das bischöfliche Amtscharisma in apostolischer Sukzession hätte übernehmen können, ist damals niemandem in den Sinn gekommen. Es hat aber auch niemand daran gedacht, sich die apostolische Segenssukzession von dem noch katholisch geweihten evangelischen Bischof Petri aus Schweden zu holen, der bis in das Jahr 1573 in Schweden amtiert hat. Bedauerlich ist auch, daß man es verpaßt hat, eine gültige Weihe durch den samländischen Bischof Georg von Polentz zu bekommen. Er selbst wurde 1519 noch katholisch geweiht, gab sich aber Ende 1523 als Anhänger Luthers zu erkennen. Er hat den Reformator zweimal in Wittenberg besucht und auf dessen Anraten sein Bistum in ein weltliches Fürstentum umgewandelt4. Er ist erst 1550 gestorben5. Von ihm hätte man gewiß sehr leicht das bischöfliche Charisma übernehm können, wenn man es nur gewollt hätte.
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Was bedeutet der Verlust der apostolischen Segenssukzession? Er bedeutet nicht nur den Verlust der apostolischen Jurisdiktionsvollmacht, sondern auch - und das ist viel schlimmer - den Verlust der apostolischen Segensvollmacht. Das heißt: Alle kirchlichen Handlungen, bei denen eine solche Segensvollmacht nötig wäre, wie die Bischofs- oder Priesterweihe, aber auch die Konsekration des Abendmahls sind ohne apostolische Sukzession ungültig - oder zumindest zweifelhaft.
Sie sind insofern zweifelhaft, als Gott in seinem Erbarmen ja auch bei einer ungültigen Ordination seinen Segen unmittelbar vom Himmel herabsenden kann. Das gleiche kann er auch tun bei einer an und für sich ungültigen Konsekration. In diesen Fällen wird das Amt also doch gültig übertragen und die Elemente werden doch gültig gewandelt - nur, niemand kann wissen, ob Gott tatsächlich an der ungültigen Handlung vorbei seinen Heiligen Geist vom Himmel herabgesandt hat oder nicht.
Ich jedenfalls bin seit 35 Jahren zu keinem normalen evangelischen Abendmahl mehr gegangen. Ich gehe nur noch zur Kommunion, wenn ich weiß, der evangelische Pfarrer hat zusätzlich zu seiner landeskirchlichen Ordination noch eine zusätzliche, gültige Priesterweihe empfangen.
5. Neuansätze in der deutschen lutherischen Kirche
Die evangelische Kirche hat also während der Reformation aus theologischer Unwissenheit die „apostolische Sukzession“ verloren. Man hat darin lange Zeit keinen Mangel erblickt. Ein falsch verstandenes „allgemeines Priestertum“ hat die deutsche evangelische Christenheit glauben gemacht, es fehle ihr nichts, es sei ja schon jeder Christ durch die Taufe zum Bischof, mindestens jedoch zum Pfarrer geweiht. Seit einiger Zeit machen sich aber wenigstens einige evangelische Theologen Gedanken. In erster Linie stehen natürlich die evangelischen Landesbischöfe selber vor der Frage nach der apostolischen Sukzession. Wo man sich dieser Frage stellt, wird sie jedoch nur halbherzig in Angriff genommen: Es wird zur Einführung eines lutherischen Landesbischofs ein schwedischer Bischof um Assistenz gebeten. Dadurch - das muß sehr deutlich gesagt werden - kommt jedoch keine apostolische Sukzession zustande, denn durch eine „Einführung“ wird prinzipiell kein Amtscharisma übertragen. Es bedeutet ja auch die Einführung eines Pfarrers in ein neues Pfarramt keine erneute Ordination! Eine Einführung ist keine Ordination oder Weihe!
Im Unterschied zu den evangelischen Landesbischöfen gibt es aber einige hochkirchliche Bruderschaftsbischöfe, die tatsächlich in einer gültigen apostolischen Sukzession stehen. Ihre Sukzessionen entstammen aus verschiedenen bischöflichen Quellen: Einmal aus der Utrechter Kirche, die sich um 1730 von Rom losgesagt hat6, zum anderen aus der syrisch-orthodoxen Kirche, die - vermutlich als Reaktion auf die Einrichtung des Jerusalemer Bistums der Anglikaner und Preußen - im Jahr 1866 einen Missionsbischof nach England geschickt hat7, der sich sehr schnell unabhängig gemacht und seine Weihe eigenmächtig weitergegeben hat, und von einer Reihe anderer Bischöfe. Aus diesen verschiedenen Quellen sind verschiedene gültige Weihelinien nach Deutschland gekommen, so daß es nun auch in der deutschen evangelischen Kirche Bischöfe in apostolischer Sukzession gibt, wenn diese auch bisher nur eine Randexistenz führen - vielleicht muß man sogar von einer Untergrundexistenz innerhalb der evangelischen Kirche sprechen. Immerhin sind diese inoffiziellen Bischöfe in der Lage, in der vollen apostolischen Segenssukzession zu segnen und zu weihen - und sie tun das auch.
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Falls nun aber jemand einwendet, ein solche Eingliederung in die apostolische Segenssukzession müsse sich als ein gesamtkirchlicher Schritt ganzer evangelischer Kirchenkörper vollziehen, das Vorpreschen Einzelner sei dagegen abzulehnen, so muß ich dem grundsätzlich zustimmen. Es gibt aber auch praktische Fragen: Sollen wir eine gesamtkirchliche Lösung suchen unter Einschluß unserer häretischen Kirchenleitungen? Sollen wir warten, bis sich die Menge der bisher Ablehnenden oder auch nur Unentschlossenen entschieden hat? Das wäre unbiblisch. Biblisch ist:
Es war ein Mann, von Gott gesandt ...
(Joh 1,6)
oder:
Ich aber und mein Haus wollen dem HERRN dienen.
(Jos 24,15)
Und in der kirchlichen Überlieferung heißt es:
Ubi episcopus, ibi ecclesia.
Der Weg der bruderschaftlichen Bischöfe ist der gesamtkirchliche Weg.
Anmerkungen
1.) 1.Clem 42,1-4. Hier wird das dreifache Amt zunächst noch als das Amt der Apostel, Bischöfe und Diakone beschrieben. Vgl auch 44,1+2!
2.) Tertullian „Prozeßeinreden“ 32. Vgl hierzu Seite 247, Anm. 12 in meinem Buch „Segen, Amt und Abendmahl“.
3.) DzH 1145f und 1290.
4.) Georg May „Die deutschen Bischöfe angesichts der Glaubrensspaltung des 16. Jahrhunderts“ (Wien 1983) Seite 437ff.
5.) „Meyers Enzyklopädisches Lexikon“ Band 19 ( Mannheim 1977) Seite 28.
6.) Vgl die Sukzessionsliste des Hochkirchlichen Apostolats St.Ansgar in dieser Homepage.
7.) Julius Ferette, „Bischof von Iona“. Vgl die Sukzessionsliste der St.Athanasius-Bruderschaft.