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Gottesdienst hinter verschlossenen
Türen?
Das Problem
Wenn ein Pastor pensioniert wird, beginnt für ihn eine besondere Prüfung: Wie hält er es mit dem dritten Gebot: „Du sollst den Feiertag heiligen“? So lange er noch rüstig ist, kann er Vertretungsgottesdienste halten; aber das sind in der Regel Predigtgottesdienste ohne Abendmahl.
Er tut mit solchen Vertretungsgottesdiensten ein gutes Werk, aber er erfüllt dabei nicht seine Sonntagspflicht, weil er ja kein Abendmahl hält und keine Kommunion empfängt1.
Das Problem verschärft sich, wenn er ein geweihter Priester ist und wenn er weiß, daß nur das Abendmahl eines geweihten Priesters gültig ist. Wo aber kann er eine gültige Kommunion empfangen? Ich habe mir eine eigene Hauskapelle eingerichtet mit einem geweihten Altar. Dort feiern wir jeden Sonntag im kleinen Kreis die Messe.
Außer unseren direkten Familienangehörigen gibt es eine kleine Gruppe eingeweihter Christen, die sich telefonisch anmelden, wenn sie kommen wollen, die dann an der Haustür klingeln, und nach denen, wenn sie das Haus betreten haben, die Tür wieder geschlossen wird.
Wir feiern auf diese Weise schöne Gottesdienste mit ausführlicher Liturgie - ungehindert von der Kritik irgendwelcher Meckerchristen oder dem inkompetenten Einspruch eines Kirchenvorstandes oder einer Kirchenleitung. Es sind schöne, fast urchristliche Gottesdienste.
Ich kann jedem pensionierten Amtsbruder eine eigene Hauskapelle und eigene häusliche Messen nur wärmstens empfehlen, wenn er sonst nicht die Möglichkeit hat zu einem regelmäßigen, gültigen Kommunionsempfang.
Nun kenne ich jedoch Leute, die sagen, das sei nicht erlaubt. Jeder Gottesdienst müsse öffentlich sein. Auch ein pensionierter Pfarrer dürfe keine privaten Gottesdienste feiern.
Ich möchte das Problem noch etwas zuspitzen. Wir hatten früher einen schönen Jugendgruppenabend, der jedesmal mit einer Messe begann und dann seine Fortsetzung fand mit einem geselligen Teil mit Volkstanz, Liedern, Diskussionen und anderen Programmpunkten. Da aber einige Jugendliche die Angewohnheit hatten, jedesmal zum Gottesdienst zu spät zu kommen, haben wir um Punkt sieben Uhr die Tür geschlossen; und wer dann noch nicht da war, konnte am ganzen Gruppenabend nicht mehr teilnehmen. Auch dieser Gottesdienst fand also - wenn auch in der Kirche - hinter verschlossenen Türen statt.
Nun fing einer der damaligen Jugendlichen, der gerne an diesen Gottesdiensten teilgenommen hatte, ein Theologiestudium in Erlangen an. Er kam dann irgendwann wieder nach Bremen und erklärte, solche Gottesdienste hinter verschlossenen Türen seien nicht erlaubt, jeder Gottesdienst müsse öffentlich sein. Irgendeine Begründung konnte er zwar nicht vorbringen; aber mein Hinweis, das erste Abendmahl Christi habe ebenfalls hinter verschlossenen Türen stattgefunden, beeindruckte ihn auch nicht. Er blieb bei seiner Universitätsweisheit und verurteilte die Gottesdienste, an denen er früher gerne teilgenommen hatte.
Ein drittes Beispiel: Vor Jahren studierte ein junger Theologe an der Mainzer Universität. Dort lehrte auch der berüchtigte Bultmannschüler Herbert Braun, der sogar Gott entmythologisieren wollte. Gott sei nichts anderes als die Liebe. Wenn ein zerstrittenes Ehepaar sich wieder versöhnte, dann „ereigne“ sich Gott. Der junge Theologe machte sein erstes Examen, wollte aber nicht in den Dienst der Landeskirche gehen, die ihre künftigen Pfarrer nötigte, an solchen Universitäten Theologie zu studieren. Er ergriff einen weltlichen Beruf, spürte dabei aber weiterhin eine innere Berufung, Gott als Pfarrer zu dienen. Er hat dann mit zwei Landeskirchen verhandelt, die ihm erlaubten, jede Art von Gottesdienst zu feiern, was er auch getan hat - bis hin zum Konfirmationsgottesdienst.
Er spürte dabei jedoch ein Ungenügen und bat darum, daß man ihn doch auch ordinieren möchte. Das wurde ihm verwehrt. Daraufhin wandte er sich an einen evangelischen Pastor mit einer hochkirchlichen Bischofsweihe. Der hat ihn in seiner Kirche - hinter verschlossener Tür, aber im Beisein einer kleinen Gemeinde - nach römischem Ritus zum Priester geweiht. Nach einiger Zeit kam der zum Priester geweihte Theologe mit der SELK in Kontakt, die bereit war, ihn ins Pfarramt zu übernehmen. Damit stand die SELK vor der Frage, ob sie seine Priesterweihe als Ordination akzeptieren könne. Die Oberurseler SELK-Fakultät hat den Fall untersucht und die Frage verneint - mit der hauptsächlichen Begründung, an sich würde die Ordination durch einen normalen Pastor reichen, da die Ordination aber nicht öffentlich, sondern bei verschlossener Kirchentür stattgefunden habe, sei sie ungültig.
Der Heilige Geist, die Handauflegung und das Gebet um den Heiligen Geist spielten bei dieser Entscheidung überhaupt keine Rolle; wichtig war vor allem die Frage: Waren die Türen verschlossen oder nicht? War es ein öffentlicher Gottesdienst oder nicht?
Dies ist zwar ein Spezialfall; hier ging es nicht nur um den Gottesdienst, sondern auch um die Frage der Ordination. Dieser Spezialfall wurde aber entschieden durch die allgemeine Überzeugung, die da lautet: Jeder Gottesdienst muß öffentlich sein.
Nun hat allerdings auch Jesus seine Apostel unter Ausschluß der Öffentlichkeit berufen. Im Markusevangelium heißt es dazu:
Und er ging auf einen Berg und rief zu sich, welche er wollte, und die gingen hin zu ihm. Und er ordnete zwölf, daß sie bei ihm sein sollten und daß er sie aussendete, zu predigen ...
(Mk 3,13+14)
Nach den Grundsätzen der Oberurseler SELK-Fakultät waren diese Apostelberufungen ungültig, denn es fehlte die Öffentlichkeit.
So weit ich das erlebt habe, wird die Behauptung, jeder Gottesdienst müsse öffentlich sein, ohne jede Begründung vorgebracht. Die Frage ist: Gibt es keine stichhaltige Begründung? Oder gibt es sie vielleicht doch? Ich will versuchen, dieser Frage im Folgenden auf den Grund zu gehen.
Das Schweigen der Literatur
Wir fragen zunächst: Was sagt die Literatur? Was sagen die umfangreichen Werke über den Gottesdienst? Ich habe einen ganzen Tag im Tübinger Theologikum verbracht und die verschiedensten, meist sehr dickleibigen Werke über den evangelischen Gottesdienst in die Hand genommen. Über die Frage des privaten Hausgottesdienstes habe ich in all diesen Büchern nichts gefunden - es sei denn, man findet ganz selten einmal eine kurz dahingeworfene Bemerkung, in der irgendwelche Hausgottesdienste ohne nähere Begründung abgelehnt werden. Das ist beispielsweise in dem Aufsatz „Öffentlicher Gottesdienst“ von Peter Cornehl der Fall. Er schreibt2:
Wenn heute in Kirchenreformkreisen gelegentlich vorschnell mit der kleinen Zahl, mit der Inkognitoexistenz des Christen, mit Haus- und neuen Katakombenkirchen kokettiert wird ... ohne daß diese Zusammenkünfte bezogen werden auf Gesellschaft und Politik, dann steckt dahinter ein nicht ungefährlicher Schuß Romantik und eine Berührungsangst vor der Öffentlichkeit ...
Ich fühle mich von diesem Einspruch nicht betroffen. Ich kokettiere nicht mit Hausgottesdiensten, wir halten sie. Eine etwaige Berührungsangst mit der Öffentlichkeit ist nicht mein Problem. Uns geht es um die Frage, die in der Literatur niemand stellt: Wo und wie bekomme ich ein gültiges Abendmahl.
Immerhin erklärt Peter Cornehl die Haus- und Katakombengottesdienste nicht für unerlaubt. Er warnt lediglich vor einem „nicht ungefährlichen Schuß Romantik“, ohne das näher zu erläutern. Ich sehe eine solche Gefahr überhaupt nicht.
Die interessanteste Bemerkung zu unserer Frage habe ich bei Karl-Fritz Daiber gefunden. Er schreibt in einem Aufsatz über „Gottesdienst und Öffentlichkeit“3:
Während in den ersten drei Jahrhunderten der christliche Gottesdienst nicht öffentlich war, darin von gesellschaftlichen Bedingungen wie von einem Kirchenverständnis geprägt, das die Diastase zwischen Kirche und Welt betonte, wurde die christliche Kirche ab dem 4. Jh. zur öffentlichen religiösen Institution.
Mit anderen Worten: Der öffentliche Gottesdienst ist eine Errungenschaft der Volkskirche. Vorher hielt man aus Furcht vor der Verfolgung - aber auch aus theologischen Gründen Gottesdienst hinter verschlossenen Türen. Die theologischen Gründe bezeichnet Daiber als Betonung der „Diastase zwischen Kirche und Welt“. Das heißt, man wollte in den ersten drei Jahrhunderten der gottlosen Umwelt keinen Zutritt geben zu den heiligen Gottesdiensten.
Vielleicht verstehen wir das theologische Anliegen der Abgrenzung gegen die Welt noch besser, wenn wir uns folgendes klarmachen: Im antiken Gottesdienst stand der Alter draußen vor dem Tempel und der ganze Opfergottesdienst fand bei Sonne, Regen oder Schnee im wesentlichen draußen statt. Einzig dem Priester war es erlaubt, das Tempelgebäude zu betreten, um dort vor dem Götterbild bestimmte Gebete darzubringen.
Der christliche Gottesdienst fand aber drinnen statt - vor dem unmittelbaren Antlitz Gottes. Die ersten Gottesdienste feierte man notgedrungen in Privathäusern, später aber in besonderen Kirchen. Dort durfte sich die ganze christliche Gemeinde im heiligen Raum der Kirche versammeln, wobei ja in gewisser Weise jeder Christ ein getaufter und gesalbter Priester war. Es ist jedoch klar, daß man einem ungetauften, unreinen Heiden keinen Zutritt gewähren konnte zu einem heiligen Raum und zu den heiligen Handlungen der Urkirche. Selbst der Taufbewerber durfte dem Gottesdienst ja nur bis zum Ende der Predigt beiwohnen. Danach hieß es: Katechumen müssen den Gottesdienst verlassen. Noch heute gibt es in der Chrysosthomos-Messe den Ausruf: „Die Türen, die Türen“, mit dem die Türhüter aufgefordert wurden, die Türen vom Credo an besonders streng zu bewachen.
Jedenfalls feierte man den christlichen Gottesdienst in den ersten dreihundert Jahren hinter verschlossenen Türen, und es kann ja wohl niemand behaupten, die alte Kirche hätte jahrhundertelang unerlaubte Gottesdienste gefeiert.
Zum Schluß dieses Kapitels eine Kuriosität. In dem Buch „Gottesdienstorte. Handbuch Liturgische Topologie“ gibt es eine Aufzählung von 86 verschiedenen Orten, an denen man Gottesdienst halten kann, von der Dorfkirche und dem Dom, dem Konzertsaal und der Kneipe, bis zum Strand und stillen Örtchen4. Zu dem letztgenannten Ort wird uns mitgeteilt, daß im Jahr 1996 in Wuppertal das Mittagsgebet während einer liturgischen Woche als „Klo-Andacht“ gefeiert wurde. Die Einzelheiten zu dieser Andacht übergehe ich. Kritik wird an dieser Andacht nicht geübt, eher schon am Hausgottesdienst, der in diesem Buch tatsächlich bewußt in den Blick genommen wird:
So positiv die Intensität des Gottesdienstes in einem Haus zu sehen ist, darf er doch nicht um seiner Vertrautheit willen neue Besucher abschrecken.
Nach meiner Erfahrung schreckt weniger die Vertrautheit einer kleinen Gemeinde neue Besucher ab, sondern viel eher der ganze Ernst einer feierlich gehaltenen heiligen Messe. Hierbei geht es jedoch nicht um ein besonderes Problem des Hausgottesdienstes, sondern um das allgemeine Problem des Sünders vor der Heiligkeit Gottes.
Immerhin spricht auch dieses kuriose Buch kein Verbot von Hausgottesdiensten aus. Es setzt vielmehr als selbstverständlich voraus, daß man überall, also auch in einer Hauskapelle, Gottesdienst feiern kann.
Ich fasse zusammen: In der von mir zu Rate gezogenen Literatur gibt es nirgendwo ein Verbot von Abendmahlsgottesdiensten mit einer kleinen Hausgemeinde. Es gibt auch keine ernsthaften Einwände gegen die Feier von Abendmahlsgottesdiensten hinter verschlossenen Türen. Es gibt höchstens einmal einen unbegründeten Seitenhieb in diese Richtung. Dabei zeigt der Hinweis auf die alte Kirche, daß es theologisch kaum möglich ist, Gottesdienste in Privathäusern als unerlaubt zu betrachten.
Die Berufung auf Martin Luther
Im Unterschied zur sonstigen Literatur lehnt nun allerdings die Lutherische Bischofskonferenz der VELKD in ihrem Schreiben „Ordnungsgemäß berufen“5 den privaten, häuslichen Abendmahlsgottesdienst sehr entschieden ab. Dabei macht sie sich - das muß man anerkennen - die Mühe, ihre Ablehnung theologisch zu begründen. Sie beruft sich dafür auf Martin Luther. Es heißt in dieser Verlautbarung zunächst:
Von der Ausübung des Allgemeinen Priestertums im privaten Bereich ist seine Wahrnehmung in der öffentlichen Versammlung zu unterscheiden.
(Abschnitt 3.3.2)
Das wird dann genauer erläutert: Im privaten Bereich seien selbstverständlich das private Gebet und die Hausandacht erlaubt sowie die „Katechese durch den Hausvater für die Familie“ - aber auch die gegenseitige Seelsorge und sogar die Beichte (Abschnitt 3.3.2).
Ob die Beichte innerhalb der Familie wirklich zu empfehlen ist, wollen wir jetzt nicht untersuchen. Immerhin wird hier das Betätigungsfeld für den privaten Bereich des allgemeinen Priestertums weit abgesteckt.
Nicht zugelassen für den privaten Bereich, sondern der öffentlichen Versammlung der Gemeinde vorbehalten sind nun aber nach diesem Bischofspapier die Predigt und die Sakramentsverwaltung.
Auch die Frage, wie sich die erlaubte häusliche Katechese und nichterlaubte häusliche Predigt im Grundsatz unterscheiden, wollen wir hier auf sich beruhen lassen. Der tatsächlich heikle Punkt ist ja nur das private, häusliche Abendmahl. Und dazu folgt nun in der Stellungnahme der lutherischen Bischofskonferenz der Hinweis auf Martin Luther6:
Weil die Feier des Abendmahls ihrem Wesen nach öffentliche Verkündigung des Evangeliums ist, äußert sich Luther ablehnend zur häuslichen Abendmahlsfeier in der Verantwortung des Allgemeinen Priestertums (WATR 5,621,28 [Nr.6361]; s.a. WA 12,171f; WATR 1,315,1-4 [Nr. 667], in WaBr 6,508,19ff größte Zurückhaltung).
Das Bischofspapier weist also auf vier Stellen bei Luther hin, wobei es selber einräumt, daß die vierte Stelle nur in „größter Zurückhaltung“ dagegen spricht. Luther rät dort nämlich ab mit dem Argument, für ein Hausabendmahl sei ein besonders starker Glaube nötig:
... es gehören starke, muthige Christen dazu, solches anzufahen.
(Walch221b,1838)
Man kann diese Äußerung von Martin Luther als Ablehnung des privaten Hausabendmahles betrachten. Es ist allerdings auch das genaue Gegenteil möglich: Mutige und starke Christen können - so kann man diesen Text verstehen - gern ihr privates Hausabendmahl feiern. Jedenfalls ist diese Äußerung von Luther keine klare Ablehnung des familiären Abendmahles.
Auch die beiden mittleren Stellen sind mehr oder weniger nichtssagend. In WA 12,171f erklärt Luther lediglich, das Abendmahl sei nicht heilsnotwendig; und in WATR 1,315,1-4 erklärt Luther, warum die Jerusalemer Urgemeinde Abendmahl in den Häusern feierte: „non habuerint templa publica“. Es bleibt also die an erster Stelle genannte Äußerung Luthers, die die Hauptlast der Argumentation zu tragen hat.
Auch diese erste Stelle ist aus den Tischreden entnommen. Luthers Tischreden sind aber mit größter Vorsicht zu betrachten. Er hat sie nicht selber notiert oder autorisiert; sondern was er bei guter oder schlechter Laune von sich gegeben hat, haben andere mehr oder weniger korrekt zu Papier gebracht und später noch bearbeitet. An einigen Stellen kann man den Tischreden schwere Irrtümer oder sogar bewußte Fälschung nachweisen (siehe dazu Walch222,45-60). Luthers Tischreden sind also keine besonders verläßlichen und beweiskräftigen Äußerungen.
Wenn man nun den überlieferten Wortlaut betrachtet, so zeigt sich, daß es in dieser Tischrede weniger um den Gegensatz „privat“ oder „öffentlich“ ging, sondern mehr um den Unterschied von Laien und Pfarramt. Luther wurde gefragt:
Ob ein Hausvater im Fall der Noth möge seinem Hausgesinde das Sacrament des Herrn Nachtmahls reichen? Hierauf antwortet D.M.L. und sprach: „Mit Nichten nicht! Denn erstlich ist da keine Vocation noch Beruf, wie Josua sprach Nummer 11: „„Mein Herr Mose wehre ihnen, die da weissagen““ etc Deuter. 4 und 6: „„So legt nu alle meine Wort in eure Herzen.““ Actor. 2 und Joel 2: „„Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen““ etc.
Daraus folget, daß die so nicht berufen sind, nicht dürfen predigen, so ist es je auch billig, daß sie nicht dürfen das Sacrament des Herrn Abendmahls reichen, um Aergerniß Willen zu vermeiden. Denn ihrer viel würden also die Kirchendiener verachten und sie unersucht lassen, wenn sie ihnen selbs könnten helfen.“
(WATR 5,621,28 [Nr.6361])7
Das also ist die Hauptbelegstelle. Wenn man von den wirren Schriftzitaten absieht, die die Laienpredigt eher befürworten als ablehnen, spricht sich dieser Text nur gegen eine Abendmahlsfeier aus, bei der ein unordiniertes Gemeindeglied die Feier leitet, weil dabei die Gefahr besteht, daß die Laien die Pastoren verachten, da man sich durch Selbstbedienung ja alles selber holen könnte.
In diesem Punkt kann man Luther sicher zustimmen. Wenn aber ein ordinierter Pfarrer in seiner Hauskapelle Messe feiert, besteht diese Gefahr ja nicht. Also müßte - im Umkehrschluß - solche Abendmahlsfeier eigentlich doch wohl erlaubt sein! Das ist denn tatsächlich auch Luthers Meinung, wie es sich aus anderen Äußerungen des Reformators ergibt und wie es auch sein Verhalten zeigt.
Es ist vielleicht nicht allen bekannt, aber Luther hat sehr oft private, häusliche Gottesdienste gehalten. Die Predigten, die er dabei gehalten hat, sind von Veit Dietrich und Georg Rörer mitgeschrieben und später in den Druck gegeben worden. Das sind die beiden „Hauspostillen“ – wohlgemerkt „Hauspostillen“! Die Hauspostille von Veit Dietrich hat Luther sogar durch ein Vorwort autorisiert.
Zu Luthers erstaunlichen Hausgottesdiensten gibt es eine alte Überlieferung, die Johann Fabricius mitteilt, in der es heißt:
Anno 1532 predigte D. Martinus daheim seinen Kindern und Gesinde alle Sonntage, wohl ein halb Jahr lang, aber in der Kirche predigte er nicht. Da fragte ihn Dr. Jonas, warum er das thäte, vielleicht sähe er, daß der gemeine Haufe und Pöbel Gottes Wort also verachtet. Antwortet D. Martinus: er thäte es Amts halber, und um Gewissens willen, als ein Hausvater, der solches zu thun schuldig ist ...
(Walch213b Vorwort)
Hier geht es allerdings nur um die häusliche Predigt. Es zeigt sich immerhin, daß die VELKD-Bischöfe sich zumindest bei der Behauptung, eine Predigt müsse immer öffentlich gehalten werden, nicht auf Luther berufen können - in der Abendmahlsfrage können sie es aber auch nicht!
In seiner programmatischen Schrift „Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes“ von 1526 beschreibt Luther verschiedene Arten von Gottesdiensten, wobei ihm die dritte Art nur als ein vorläufig unerreichbares Ideal vor Augen schwebt:
Aber die dritte Weise, so die rechte Art der evangelischen Ordnung haben sollte, müßte nicht so öffentlich auf dem Platz geschehen unter allerlei Volk, sondern diejenigen, so mit Ernst Christen wollten sein und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Haus allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sacrament zu empfahen und andere christliche Werke zu üben.
(Walch210,229)
Wenn neben der Taufe vom „Sacrament“ die Rede ist, ist offenkundig das Abendmahl gemeint. Luther träumt also von einer Art hochkirchlichpietistischen Abendmahls-Hauskreis. Kurz darauf wiederholt er diese Idee noch einmal:
Hier könnte man auch eine kurze feine Weise mit der Taufe und Sacrament halten und alles auf’s Wort und Gebet und die Liebe halten.
(Walch210,229)
Wir sehen also: Luther ist eher ein Zeuge für häusliche Abendmahlsfeiern als dagegen - vorausgesetzt, das Abendmahl wird von einem ordinierten Pfarrer eingesetzt. Dabei ist zu bedenken, daß die Äußerungen Luthers in einer solchen programmatischen Schrift ein weit größeres Gewicht haben, als die unsicheren Notizen am Rande eines Mittagstisches.
Übrigens hat Luther sogar einmal eine Hauskapelle eingeweiht. Ich meine die Schloßkirche zu Torgau, die ja eigentlich nur eine fürstliche Privatkapelle war, wenn auch etwas größer und aufwendiger als eine normale bürgerliche Hauskapelle. Sie stand - wie das ganze übrige Schloß - gewiß nicht jedermann offen und gilt als erste evangelische Kirche überhaupt. Luther hat sie am 5. Oktober 1544 mit einer Predigt, wie man so sagt, „eingeweiht“8.
*
Nun ist Luther ja keine unfehlbare Autorität. Viel wichtiger ist es, die Bibel zu befragen, ob sie uns Auskunft gibt über öffentliche und nichtöffentliche Gottesdienste. Bevor wir uns allerdings der Heiligen Schrift zuwenden, möchte ich noch auf ein böses Schlagwort eingehen, das auch auf Luther zurückgeht.
Die sogenannten „Winkelmessen“
Gottesdienste im kleinen Kreis, selbst wenn sie in der Kirche stattfinden und die Türen offenstehen, werden manchmal als „Winkelmessen“ diffamiert. Besonders betroffen sind selbstverständlich Gottesdienste, die in einer häuslichen Privatkapelle hinter verschlossenen Türen stattfinden. Was ist zu diesem Schlagwort zu sagen?
Den polemischen Begriff der „Winkelmesse“ hat Luther geprägt, um seine Kritik an den vielen rein priesterlichen Meßfeiern der damaligen katholischen Kirche zum Ausdruck zu bringen, bei denen es keine Kommunikanten gab9. Luther hielt alle Messen ohne kommunizierende Gemeindeglieder für schriftwidrig und unerlaubt. Jesus hatte ja beispielsweise in Hinblick auf den Kelch gesagt: „Trinket alle daraus.“ Mit „alle“ kann ja nicht nur der Priester allein gemeint sein. Wenn dagegen wenigstens zwei oder drei Kommunikanten da sind, ist ja die Anordnung, daß „alle“ aus dem Kelch trinken sollen, schon sinnvoll und angemessen.
Es geht also bei Luther weder um die kleine Zahl der Kommunikanten noch um die Frage einer Eucharistiefeier hinter verschlossenen Türen, sondern nur um die Messe ohne Kommunikanten.
Übrigens hat Jesus seine Jünger ausdrücklich zu Gottesdiensten im kleinen Kreis ermuntert, als er gesagt hat:
... wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
(Mt 18,20)
Zum rechten Verständnis muß man wissen, daß das Wort „Versammlung“ in der Bibel terminus technicus für den Gottesdienst ist10. Nur wenn man das weiß, versteht man Mt 18,20 richtig: Jesus ermuntert uns, auch im kleinsten Kreis - notfalls mit zwei oder drei Personen - das heilige Abendmahl zu feiern und uns nicht von der kleinen Zahl bedrücken zu lassen.
Das polemische Schlagwort von der „Winkelmesse“ sollte also auf keinen Fall verwendet werden, wenn es sich um eine Messe im kleinen Kreis handelt. Aber auch ein Gottesdienst hinter verschlossenen Türen ist von diesem Wort nicht betroffen, sondern nur eine Messe ohne Gemeindekommunion. So ist es jedenfalls bei Luther.
Das Vorbild Jesu
Wir kommen jetzt zur Bibel. Jesus ist ganz klar zweigleisig gefahren. Er hat vielfach öffentlich gepredigt, von der Bergpredigt und der großen Brotrede bis zu den Weherufen über die Pharisäer und Schriftgelehrten. Er hat aber zugleich auch manches nur im internen Jüngerkreis gelehrt und den Jüngern sogar geboten, das Gesagte vorläufig geheim zu halten.
Markus berichtet, wie Jesus zunächst öffentlich über das vierfache Ackerfeld gepredigt hat; der Evangelist fährt fort:
Und da er allein war, fragten ihn, die um ihn waren, samt den Zwölfen, über die Gleichnisse. Und er sprach zu ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; denen aber draußen widerfährt es alles durch Gleichnisse, auf daß sie es mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, auf daß sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.
(Mk 4,10-12)
Hier unterscheidet Jesus deutlich zwischen denen, die „draußen“ sind, und seinen Jüngern, die das Evangelium besser verstehen und die im vertrauten Kreis noch eine zusätzliche Belehrung von Jesus bekommen. Es gab damals also eine öffentliche und eine nichtöffentliche Verkündigung Jesu.
Der Evangelist Johannes berichtet, wie Jesus Lazarus auferweckt hat und wie daraufhin der Hohe Rat beschlossen hat, Jesus zu töten. Johannes fährt fort:
Jesus aber wandelte nicht mehr öffentlich unter den Juden, sondern ging von dannen in eine Gegend nahe bei der Wüste, in eine Stadt, genannt Ephraim, und blieb daselbst mit seinen Jüngern.
(Joh 11,54)
Was hat Jesus in diesen nichtöffentlichen Tagen in der Stadt Ephraim gemacht? Es dürfte klar sein: Er hat auch hier seine Jünger belehrt, und zwar nichtöffentlich.
Wir kommen zum letzten Abend, an dem Jesus noch einmal mit seinen Jüngern das Passafest gefeiert hat. Jesus wußte, daß er steckbrieflich gesucht wurde (Joh 11,57) und daß Judas entschlossen war, ihn an die jüdischen Behörden auszuliefern. Er hat daher die festliche Versammlung auf seltsame Weise vorbereitet:
Und er sandte seiner Jünger zwei und sprach zu ihnen: Gehet hin in die Stadt, und es wird euch ein Mensch begegnen, der trägt einen Krug mit Wasser; folget ihm und wo er hineingeht, da sprecht zu dem Hausherrn: Der Meister läßt dir sagen: Wo ist das Gemach, darin ich das Osterlamm mit meinen Jüngern essen kann? Und er wird euch einen großen Saal zeigen, der mit Polstern versehen und bereit ist; daselbst richtet für uns zu.
(Mk 14,13-15)
Ich verstehe diese Verse so, daß Jesus bis zuletzt geheim halten wollte, wo sie Passa feiern würden, und daß er deshalb eine Art konspirative Verabredung mit dem Wasser-Krug-Mann getroffen hatte. So konnte Judas den Ort nicht wissen und verraten, und Jesus konnte seine Jünger hinter verschlossenen Türen in aller Ruhe belehren und mit ihnen das Abendmahl feiern.
Es spricht übrigens manches dafür, daß das Haus, in dem Jesus das erste Abendmahl mit seinen Jüngern gefeiert hat, identisch ist mit dem Haus, in dem sich später die Gemeinde regelmäßig versammelt hat. Wenn das stimmt, gibt uns der Bericht, wie Petrus aus dem Gefängnis befreit wurde, einen guten Eindruck, wie sehr es durch ein verschlossenes Tor geschützt war:
Da Petrus zu sich selber kam ... kam er vor das Haus Marias, der Mutter des Johannes, der mit dem Zunamen Markus hieß, wo viele beieinander waren und beteten. Als er aber an die Tür des Tores klopfte, trat hervor eine Magd, zu horchen, mit Namen Rhode. Und als sie des Petrus Stimme erkannte, tat sie das Tor nicht auf vor Freuden, sondern lief hinein und verkündete es ihnen, Petrus stünde vor dem Tor. Sie aber sprachen zu ihr: Du bist von Sinnen. Sie aber bestand darauf, es wäre so. Sie sprachen: Es ist sein Engel. Petrus aber klopfte weiter an. Da sie nun auftaten, sahen sie ihn und entsetzten sich.
(AG 12,12-16)
Jedenfalls hat Jesus seine Jünger am Gründonnerstagabend hinter verschlossenen Türen im kleinen Kreis belehrt, und zwar nur seine Jünger. Er hat sie mit folgenden Worten angesprochen:
... ihr werdet meine Zeugen sein, denn ihr seid von Anfang bei mir gewesen.
(Joh 15,27)
Das trifft ja nur auf den engsten Jüngerkreis zu: „ihr seid von Anfang bei mir gewesen.“
Und mit folgenden Worten hat Jesus ihnen den Heiligen Geist versprochen:
... der wird euch alles lehren und euch erinnern alles des, was ich euch gesagt habe.
(Joh 14,26)
Auch das kann nur auf den engsten Jüngerkreis zutreffen - daß der Geist sie an alle die vielen Worte erinnern wird, die Jesus zu ihnen gesagt hat.
Es ist ganz eindeutig und klar: Die sogenannten Abschiedsreden Jesu (Joh 13,21-16,33) sind interne Jüngerbelehrung - eine lange Predigt hinter verschlossenen Türen. Und genauso findet auch das erste Abendmahl hinter verschlossenen Türen statt.
Warum hat Jesus seine Jünger hinter verschlossenen Türen belehrt, und warum hat er auf gleiche Weise das erste Abendmahl gefeiert? Darauf ist zunächst zu antworten: Jesus und seine Jünger standen unter Verfolgungsdruck. Daraus könnte man den Schluß ziehen: In der Situation der Verfolgung darf die Kirche Gottesdienste im Verborgenen feiern, sonst aber nicht. In normalen Zeiten müssen die Gottesdienste öffentlich sein.
Es gibt aber noch ein anderes Argument, warum das erste Abendmahl und warum eigentlich jedes Abendmahl möglichst nichtöffentlich gefeiert werden sollte. Nach der Bibel ist die christliche Gemeinde das „Haus Gottes“. So schreibt Paulus an Timotheus:
Solches schreibe ich dir ... das du wissest, wie man wandeln soll in dem Hause Gottes, welches ist die Gemeinde des lebendigen Gottes ...
(1.Tim 3,14+15)
Das Wort „Haus“ wird in der Bibel vielfach als Synonym für die „Familie“ gebraucht. So ist es zweifellos auch hier gemeint. Alle Christen gehören zur Familie Gottes. Sie sind durch die Taufe Gottes Kinder; im Epheserbrief werden sie als „Gottes Hausgenossen“ bezeichnet (Eph 2,19). Dabei behält das Wort „Haus“ jedoch seine Bildhaftigkeit. Zum Haus gehört auch eine Haustür, die verschlossen werden kann. Zum Haus gehört das „drinnen“ und „draußen“, wie es ja schon Jesus zum Ausdruck gebracht hat und wie es auch Paulus mehrfach betont. So schreibt er an die Korinther:
Was gehen mich die draußen an, daß ich sie sollte richten? Habt ihr nicht, die drinnen sind, zu richten? Gott aber wird, die draußen sind, richten.
(1.Kor 5,12+13)
Oder er schreibt an die Kolosser:
Wandelt weise gegen die, die draußen sind ...
(Kol 4,5)
Auf 1.Thes 4,12 und 1.Tim 3,7 weise ich nur kurz hin.
Wenn nun die christliche Gemeinde die Familie Gottes ist, die sozusagen in einem Haus mit verschließbarer Tür lebt, so ist das Abendmahl die Mahlzeit der Familie. Ein Familienmahl aber wird „drinnen“ gegessen, nicht draußen auf dem Markt, nicht in aller Öffentlichkeit.
Übrigens sind Predigt und Abendmahl keineswegs das Gleiche, wie es die VELKD-Bischöfe behaupten. Die Predigt des Evangeliums wendet sich an alle Kreatur (Mk 16,16) - ohne daß damit eine besondere Jüngerbelehrung oder eine Predigt in einer kleinen Hausgemeinde verboten wäre. Das Abendmahl ist jedoch ausschließlich die Speise der gläubigen Christen. Schon im Hinblick auf die Juden sagt die Bibel:
Wir haben einen Altar, davon kein Recht haben zu essen, die der Stiftshütte dienen.
(Hebr 13,10)
Wenn schon die glaubensverwandten Juden mit ihrem Tempelgottesdienst kein Recht haben, am Abendmahl teilzunehmen, dann trifft das vielmehr noch auf die Heiden zu. Deshalb hat ja auch die alte Kirche nicht einmal die ungetauften Katechumenen am eigentlichen Abendmahlsteil des Gottesdienstes zusehen oder gar teilnehmen lassen.
Der Grund, daß Jesus das erste Abendmahl hinter verschlossenen Türen gefeiert hat, dürfte also nicht allein die damalige Verfolgungssituation gewesen sein, es liegt auch im Wesen des Mahles der Familie Gottes, daß es im Schutz einer nichtöffentlichen, häuslichen Geborgenheit gefeiert wird.
Der Gesichtspunkt, daß das Abendmahl die Mahlzeit der Familie Gottes ist, bedarf allerdings noch einer vertieften Betrachtung. Dazu die folgende Überlegung.
Eine systematische Überlegung
Wenn das Abendmahl die Mahlzeit der Familie Gottes ist, dann darf kein Familienmitglied von diesem Mahl ausgeschlossen werden. Die Zeit und der Ort, wo gegessen werden soll, muß jedermann bekannt sein; und jeder ist auch normalerweise verpflichtet, pünktlich zum Essen zu erscheinen.
In einer Familie geht es nicht an, daß ein Teil Familie sich in ein separates Zimmer zurückzieht und hinter der verschlossenen Tür ein wohlschmeckendes Mahl zu sich nimmt, ohne daß die anderen Familienangehörigen davon etwas wissen. Es gehört also zum Familienessen eine interne Öffentlichkeit. Das Gleiche trifft auch auf das Abendmahl der Kirche zu. Auch hier muß es grundsätzlich eine interne Öffentlichkeit geben, so daß jeder Christ grundsätzlich an jedem Abendmahl teilnehmen kann. Insofern sind eucharistische Hausgottesdienste, zu denen nur wenige, besonders eingeweihte Christen eingeladen sind, tatsächlich ein Problem. Wenn beispielsweise in der Zeit der Aufklärung die Adligen immer wieder Abendmahls-Hausgottesdienste für sich gefordert haben, weil sie keine Gemeinschaft mit den normalen Gemeindegliedern haben wollten11, so handelte es sich dabei zweifellos um eine schwere Sünde gegen die innerkirchliche Familiengemeinschaft.
Das gilt bis zu einem gewissen Grad sogar für separate Jugendgottesdienste oder Messen kleiner hochkirchlicher Gruppen in Kirchen, deren Türen zwar offen stehen, wobei aber die Möglichkeit zur Kommunion nicht vorher allgemein bekanntgegeben worden ist.
Nun gilt es allerdings auch zu bedenken, was erlaubt ist, wenn die Familie zerfallen ist. Wenn in einer Familie Vater und Mutter Alkoholiker sind, die die Kinder schlagen und ihnen kein Essen bereiten, dann muß es erlaubt sein, daß das älteste Geschwisterkind zusieht, wie es etwas zum Essen auftreibt, und mit den jüngeren Geschwistern in irgendeinem stillen Winkel eine heimliche Mahlzeit zu sich nimmt.
Das heißt: So lange das evangelische System von Kirchenleitung und Kirchenvorstand einen Pfarrer behindert oder sogar bedroht, der das sonntägliche Abendmahl im Hauptgottesdienst einführen will, und wo sogar die als Ersatz gedachte Vorabendmesse vom Kirchenvorstand verhindert wird und wo überhaupt der Unfriede ausbricht, wenn es eine besonders abendmahlsfreudige Gemeindegruppe gibt, da muß es erlaubt sein, daß der Pfarrer sich eine Hauskapelle zulegt und mit seiner Ehefrau oder mit wenigen verschwiegenen Gemeindegliedern wöchentliche Messen feiert.
Und wenn ein pensionierter Pfarrer in seiner Stadt kein gültiges Abendmahl erhalten kann, ist es selbstverständlich erlaubt - ja, eigentlich geboten - daß er sich eine Hauskapelle einrichtet und mit wenigen Christen das von Jesus Christus angeordnete Gemeindemahl feiert, das die große Menge der ungehorsamen Christen leider nicht will und zu dem sich seine theologisch verbildeten Amtsbrüder keine Vollmacht erteilen lassen wollen. Noch einmal: Jesus selber hat uns zu solchen Gottesdiensten ermuntert mit dem Wort:
... wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
(Mt 18,20)
*
Es kann übrigens selbst in einer intakten Familie gelegentlich eine Sondermahlzeit geben. So beklagt im Gleichnis vom verlorenen Sohn der Ältere, daß der Vater ihm keinen Bock gegeben habe, so daß er mit seinen Freunden eine fröhlich-festliche Sondermahlzeit hätte feiern können. Der Hintergrund dieses gewiß unberechtigten Vorwurfs ist offensichtlich der, daß es auch Ausnahmefälle geben kann, indem es mit Einwilligung des Vaters auch einmal ein festliches Sonderessen eines Teiles der Familie geben kann.
Das heißt ins Geistliche übertragen: Wenn die Dinge abgesprochen und geregelt sind, ist es auch in der Familie Gottes möglich, daß etwa die Jugendgruppe ihre gesonderte Abendmahlsfeier hat, oder daß es sonst einen besonderen Eucharistischen Kreis in einer Kirchengemeinde gibt.
Ein biblisches Vorbild für solch eine geistliche Sondermahlzeit finden wir im Alten Testament im Zusammenhang mit der Königssalbung des jungen David. Eigentlich galt ja im alten Bund ein striktes Gebot, daß Opfergottesdienste nur an der jeweils von Gott auserwählten Stätte stattfinden dürfen (5.Mose 12). Es war dies ja die sogenannte „Kultzentralisation“. Die Davidgeschichte zeigt jedoch, daß es offenbar eine weitverbreitete Ausnahmeregel gab. So wird in 1. Sam 20,6 ein „jährliches Opferfest für das ganze Geschlecht“ erwähnt, das damals zur Neumondzeit12 in Bethlehem stattfand. Und als Gott Samuel aufforderte, in Bethlehem einen neuen König zu salben, fürchtete sich der Prophet zu Recht vor der Rache des immer noch mächtigen Königs Saul:
Wie kann ich hingehen? Saul wird es erfahren und mich töten. Der HERR sprach: Nimm eine junge Kuh mit dir und sprich: ich bin gekommen, dem HERRN zu opfern.
(1.Sam 16,2)
Wenn die Opferung einer jungen Kuh zur Tarnung dienen konnte, muß es etwas Normales gewesen sein, daß einzelne Familien ihre besonderen Opferfeste feierten.
Wir sehen: Auch das Alte Testament läßt eine gewisse Zweigleisigkeit erkennen: Da gab es einmal die für das alte Israel öffentlichen Gottesdienste, für die eine strikte Kultzentralisation angeordnet war, und es gab daneben auch die Möglichkeit kleinerer privater Opferfeste13. Diese kleineren familiären Opferfeste sind, wie ich meine, ein schönes Vorbild für Abendmahlsfeiern im kleinen Kreis, unter der Voraussetzung, daß ein „Prophet“, das heißt: ein Pastor zugegen ist, der die spezielle Abendmahlsfeier verantwortet und die Gaben konsekriert.
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Ich erlaube mir bei diesem Stand meiner Überlegungen eine vorläufige Zusammenfassung: Es gibt verschiedene Gründe, die die im kleinen Kreis gefeierten Abendmahlsgottesdienste rechtfertigen. Da ist zuerst die Not, daß in unserer kirchlichen Situation die Möglichkeit einer sonntäglichen Kommunion in aller Regel nicht gegeben ist; und da ist die noch größere Not, daß die meisten evangelischen Abendmahlsfeiern wahrscheinlich ungültig sind, weil schon die evangelischen Ordninationen im höchsten Maß zweifelhaft sind.
Da ist aber auch das alttestamentliche Vorbild der kleinen Opfergottesdienste im familiären Kreis. Und da ist im Neuen Testament das Vorbild Jesu, der immer wieder seine Jünger im kleinen Kreis berufen und belehrt und der vor allem sein erstes Abendmahl hinter verschlossenen Türen gefeiert hat. Da ist ferner die Sicht des Apostels Paulus von der Christenheit als Familie Gottes und den anderen, die „draußen“ sind. Schließlich und zuletzt gibt es auch noch das Vorbild der alten Kirche, die ihre Gottesdienste in den ersten drei Jahrhunderten strikt hinter verschlossenen Türen gefeiert hat.
Bei alledem ist aber auch das noch zu bedenken: Gott ist nicht ein Gott, der seine Sakramente wie eine knappe Ware zurückhält, sondern er bietet uns an den „Reichtum seiner Gnade“ (Eph 1,7).
Aus alledem ergibt sich: Abendmahlsgottesdienste im kleinen Kreis und notfalls auch hinter verschlossener Tür sind zumindest in unserer heutigen Situation erlaubt und sogar zu empfehlen. Wer den Herrn Jesus lieb hat, wird froh und dankbar sein, wenn er ihn - unter Brot und Wein verborgen - möglichst oft empfangen kann. Wenn das nur im kleinen Kreis und hinter verschlossener Tür möglich ist, braucht das für ihn kein Hinderungsgrund sein.
CA XIV
Ich bin in meinen Überlegungen bisher noch nicht auf den 14. Artikel der Augsburgischen Confession eingegangen, die ja immerhin eine wichtige lutherische Bekenntnisschrift ist. Es heißt dort:
Vom Kirchenregiment wird gelehrt, daß niemand in der Kirchen offentlich lehren oder predigen oder Sakrament reichen soll, ohn ordentlichen Beruf.
Warum ist hier so betont vom „öffentlichen“ Lehren und von der „öffentlichen“ Sakramentsverwaltung die Rede? Hätte es nicht gereicht zu sagen: In der Kirche darf niemand lehren oder das Abendmahl einsetzen ohne eine Ordination? So sagt es ja auch tatsächlich der parallele 14. Artikel der Apologie:
(wir sagen), daß man niemands gestatte zu predigen oder die Sakrament zu reichen in der Kirchen ...
Wozu steht also in CA XIV das so betonte, eigentlich überflüssige „öffentlich“? Ich weiß es nicht. Es scheint mir jedoch wahrscheinlich zu sein, daß nicht nur Luther, sondern - vermutlich angeregt durch Luther - auch Melanchthon schon über häusliche Gottesdienste nachgedacht hatte. Vielleicht hatte Melanchthon gemeint, in solchen Gottesdiensten könnten auch unordinierte Gemeindeglieder das Abendmahl einsetzen, und er wollte wohl in CA XIV schon unbemerkt eine Tür für solche Gottesdienste öffnen. Bei der Abfassung der Apologie hat er dann diesen Gedanken ruhen lassen, um die Bekenntnisauseinandersetzung nicht unnötig mit vorläufig unrealisierbaren Idealvorstellungen zu belasten.
Wenn diese Deutung richtig sein sollte, gehören Luthers Äußerungen über die Hausgottesdienste derer, die mit Ernst Christ sein wollen, und CA XIV zusammen. Demnach sind Luthers Ausführungen in der „Deutschen Messe“ keine unbedachten, nebenbei hingeworfenen Bemerkungen, sondern wir haben es mit einem Herzensanliegen der Reformatoren zu tun: Die, die mit Ernst Christen sein wollen, versammeln sich hinter verschlossenen Türen, um so Gottesdienst zu halten, wie es dem Willen Gottes entspricht. Dazu gehört allerdings - so möchte ich ergänzen - daß der Gottesdienst von einem hochgeweihten, gültig ordinierten Pfarrer geleitet wird.
Schlußbemerkung
Jesus hat das Heilige Abendmahl in seiner großen Brotrede ausführlich erklärt und dabei große und schwergewichtige Aussagen gemacht. Er hat gesagt, daß ein Mensch, der kein gültiges Abendmahl empfängt, als geistlich tot anzusehen ist:
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.
(Joh 6,53)
Diese Worte sind offenbar als abgekürzte Redeweise zu verstehen, bei der auch die Taufe und der Glaube stillschweigend vorausgesetzt sind. Gemeint ist: Wenn ihr euch nicht zu einem lebendigen Glauben durchringt und euch nicht taufen laßt und wenn ihr dementsprechend kein Abendmahl empfangen könnt, seid ihr geistlich tote Menschen. Es geht also nicht um das Abendmahl allein; aber das Abendmahl wird doch als der Gipfelpunkt des gläubigen christlichen Lebens besonders hervorgehoben.
Um es in einem Bild auszudrücken: Wer zum Haus Gottes gehören will, muß zuerst eine Tür durchschreiten, die mit zwei Schlössern gesichert ist. Die Schlösser heißen Taufe und Glaube. (In welcher Reihenfolge die Schlösser aufgeschlossen werden, ist gleichgültig, aber beide müssen geöffnet werden.) Wer durch diese Tür gegangen ist, steht aber zunächst nur in einem Vorflur. Hier ist er zwar schon sicher vor Kälte, Regen und Schnee; aber er hat die eigentliche Wohnung noch nicht betreten. Um in die eigentliche Wohnung zu kommen muß er noch einmal durch eine mit einem Schloß gesicherte Tür gehen. Diese Tür ist das heilige Abendmahl.
Das heißt: Das Abendmahl ist nicht eine Art „geistlicher Luxus“, auf den man notfalls auch verzichten kann. Das gültige Abendmahl ist neben Glaube und Taufe conditio sine qua non für die Teilnahme am Leben der Familie Gottes - das heißt: für ein wirkliches geistliches Leben. Dabei geht es nicht um irgendein frommes Hantieren mit Brot und Wein, sondern um den Empfang seines wirklichen Fleisches und Blutes.
Jesus hat ja klar und unmißverständlich erklärt: Wer an der heiligen Kommunion teilnimmt, hat schon jetzt - in diesem Leben - Anteil am ewigen Leben:
Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken.
(Joh 6,54)
Dabei hat Jesus dem gläubigen Kommunikanten durch den Empfang dieses hochheiligen Sakramentes die allerengste Gemeinschaft versprochen:
Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.
(Joh 6,56)
Diese Gemeinschaft - „er in mir und ich in ihm“ - ist deutlich mehr als die Mahlgemeinschaft Jesu mit den Zöllnern und Sündern, auf die sonst in der Theologie gern hingewiesen wird. Jesus hat dem, der sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt, eine viel engere Gemeinschaft versprochen. Offenbar ist es diese enge Gemeinschaft, die den gläubigen Christen stark macht gegen viele Anfechtungen und Versuchungen.
Es sind also mit dem Abendmahl die allergrößten Verheißungen verbunden. Darum wird ein wirklich gläubiger Christ immer eine Sehnsucht nach dieser geistlichen Speise haben. Für ihn ist die Kommunion im kleinen Kreise eine große Hilfe und Glaubensstärkung. Wer ihm diese Stärkung mit unbiblischen Geboten oder Schlagworten ausreden oder verwehren will, betreibt - auch wenn er das nicht will - das Werk des Teufels. Er begeht in jedem Fall eine schwere Sünde. Wer aber als evangelischer Pfarrer eifrig viele Abendmahlsgottesdienste feiert, der darf mit dem 119. Psalm sagen:
Du hast geboten, fleißig zu halten deine Befehle.
(Ps 119,4)
Und:
Ich habe mehr Einsicht als alle meine Lehrer;
denn über deine Mahnungen sinne ich nach.
(Ps 119,99)
Anmerkungen
1.) Daß die Bibel voraussetzt, daß ein Christ jeden Sonntag zum Abendmahl kommen soll, habe ich in meinem Buch „Segen, Amt und Abendmahl“ ausführlich in dem Kapitel „Predigtamt und Abendmahl“ dargelegt.
2.) Aufsatz „Öffentlicher Gottesdienst“ in „Gottesdienst und Öffentlichkeit“ herausgegeben von Peter Cornehl und Hans-Eckehard Bahr (Hamburg 1970) Seite 179.
3.) In „Handbuch der Liturgik“, herausgegeben von Hans-Christoph Schmidt-Lauber, (Göttingen 32003) Seite 580.
4.) „Gottesdienstorte. Handbuch Liturgische Topologie“ herausgegeben von Gotthard Fermor, Gerhard K. Schäfer, Harald Schröter-Wittke und Susanne Wolf-Withöft (Leipzig 2007). Das folgende Zitat steht auf Seite 161.
5.) „Ordnungsgemäß berufen. Eine Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD zur Berufung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung nach evangelischem Verständnis“ 136. Text aus der VELKD, November 2006.
6.) Anmerkung 31.
7.) Vgl Walch2 22,570.
8.) Siehe Walch212,1957-85.
9.) So zum Beispiel in seiner Schrift „Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe“ 1533 (Walch219,1220ff).
10.) Siehe auch hier das Kapitel „Predigtamt und Abendmahl“ in meinem Buch „Segen, Amt und Abendmahl“.
11.) Paul Graff „Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands“ (Göttingen 1939) Band II, Seite 141ff.
12.) 1.Sam 20,24+34.
13.) Auf ein ähnliches Opferfest in Zuph (1.Sam 9,12+13) möchte ich nur kurz hinweisen.